Dezember 2008 Archives

Begraben und Ausgegraben
Ex-Polizist Marek Miert, sattsam bekannter Diskont-Detektiv mit leichtem Hang zum Autismus bekommt den Auftrag, einen eigenbrötlerischen Buchhändler zu beschatten und zu beschützen. Irgendwo in den Tiefen des österreichischen Outback namens Harland, in heruntergekommenen Arbeitersiedlungen, Industrieruinen und Aulandschaft ist nichts so beschaulich wie es scheint. Der Buchhändler geht in der Einsamkeit der halbaquatischen Natur eigenartigen Vermessungsarbeiten nach und Marek, der vorgibt, Schneeglöckchen zu suchen, erfährt, dass da einst, überwuchert und gänzlich vergessen, eine Zwangsarbeitersiedlung gestanden hat. Man ahnt also schon: wer ausgraben will was andere begraben haben wollen, wird gröbere Schwierigkeiten bekommen, zumal im Harlander Stadtarchiv sämtliche Akten über einstige Parteimitglieder verschwunden sind. Marek wird zusätzlich in eine halb private Fehde verwickelt. Sein ehemaliger Vorgesetzter und Intimfeind Oberleutnant Gabloner - „unberechenbar wie ein bösartiger Makake"- hat Marek umstandslos eingebuchtet. Denn wenn jemand neben einer süchtigen Minderjährigen und einem  zusammengeschlagenen Dealer aufgefunden wird, hat er schlechte Karten. Marek wird zwar freigelassen, aber er soll dafür als Spitzel dienen. Gabloner möchte sich als Aufdecker ukrainischer Mafianetzwerke profilieren, Marek dagegen möchte nichts als überleben. Wieningers Plot  ist überschaubar und  fern von artifizieller Überfrachtung. Seine eigentliche Stärke liegt wieder einmal in der Schilderung der Milieus, der halbverrückten Außenseiter und der hinterfotzigen, pessimistischen  Alltagsphilosophie des beleibten Detektivs, welche ihn jedoch nicht daran hindert, eine Grillparty im zugemüllten Hinterhof zu genießen. Selbstironie und Witz sind bessere Überlebensmittel als Waffen, auch wenn Marek selbstgebastelte Schießeisen zu schätzen weiß.
Auch bemerkenswert: eine plastische, überaus grausige Beschreibung des Monats Februar!

Mysteriöse Schnitzeljagd
Dieses Buch braucht einen langen Atem. An sich ist alles da, was einen Krimi ausmachen könnte: ein gefolterter Entführter, der in die Freiheit zurückkehrt, Geheimdienstler, Schläger und Frauen mit zwielichtiger Biografie. Aber das ist nur ein Teil des Personals. Der Autor verwebt auf unnachahmliche Weise die Gegenwart des Ich-Erzählers zur Zeit des Mauerfalls mit der Geschichte vor dem Zweiten Weltkrieg, im Speziellen der linken Splittergruppen und der Surrealisten in Paris. Victor, ein eher unbedeutender Pressefotograf, war entführt und über tausend Tage festgehalten worden. Wo, warum und von wem bleibt im Dunkeln. Die Gefangenschaft teilte Victor mit dem Zufalls-Leidensgenossen Alex, dessen Vater Alfred Katz seinerzeit ein Handlanger der Trotzkisten war, die ihrerseits von den Stalinisten bespitzelt wurden. Katz führte ein Tagebuch, das Victor, der nur mühsam ins normale Leben zurückfindet, zu lesen bekommt. Auf den Spuren von Alfred Katz durch Paris, später durch Prag vagabundierend, wird Victor immer noch beschattet. Wer sich auf den suggestiven Text von Vilar einlassen kann, landet in einem historisch befrachteten Labyrinth mit hunderten Querverweisen, wobei die provozierenden Ausstellungen und Aktionen der Surrealisten sehr lebendig geschildert werden. Parallel dazu resümiert Vilar, wie vergeblich der Kampf der Handvoll Trotzkisten gegen den stalinistischen Terror war. Im Anhang gibt es einen dünnen Ariadnefaden in Gestalt kurzer Anmerkungen zu den historischen Persönlichkeiten von Louis Aragon bis Andrei Wyschinski, sozusagen verbürgte Fixpunkte in einer mysteriösen Schnitzeljagd.

Kreativ und böse
Monty gehört nicht zu den Guten. Mit einem dicken Vorstrafenregister plus Gefängnisaufenthalt ist er nicht gerade ein Wunschnachbar. Das denken sich die Bürger von Winnipeg auch und bemühen sich, dem Neuzugezogenen das Leben möglichst schwer zu machen. Kaum hat Monty ein Häuschen für Frau und Baby gefunden, wird er von drei Maskierten überfallen. Die Notwehr ufert ein wenig aus und schon findet sich Monty im Verhörraum mit Sergeant Walsh wieder, der ein großes Vergnügen daran hat, den Ex-Knacki brutal zu misshandeln. Die Einbrecher, die Monty niedergemacht hat, sind irgendwie mit dem örtlichen Gangsterboss verwandt, also hat er auch die kriminelle Unterwelt gegen sich. Die Versuchung ist groß, zu resignieren, fürderhin auf Anständigkeit zu verzichten und ins alte Fahrwasser der illegalen Geldbeschaffung abzudriften, zumal Monty bei diversen Arbeitgebern verleumdet wird und die ihm prompt kündigen. Der beruflich vielseitige Kanadier Michael Von Rooy stellt sich mit einem gelungen Debüt vor. Statt eines gefühligen Sozialdramas stattet er die dornenreiche Rückkehr des Bösen in zivile Anständigkeit mit einer Portion schwarzem Humor und guten Anwälten aus. Sein Held entwickelt kreative Gegendstrategien, um den sadistischen Walsh zur Strecke zu bringen und er hat auch einige amüsante Einfälle für Spießer die ihm nachts unerfreuliche Botschaften vor die Tür legen. Das ist zwar nicht zur Nachahmung empfohlen, aber es unterhält ungemein. In der Theorie ist Rache immer wieder süß.

Tom Rob Smith: Kind 44. DuMont

In Zeiten des Terrors
Der russische Serienmörder Andrej Tschikatilo hat die Inspiration geliefert, aber  was der in London lebende Autor daraus gemacht hat ist weit mehr als ein Krimi. Er lässt seinen Roman 1933, in den Zeiten des stalinistischen Terrors beginnen, als die Bauern zu Hunderttausenden verhungerten und kleine Kinder getötet wurden, um sie aufzuessen. Ein Bub verschwindet. Die Geschichte bricht ab. 1953, als der Terror immer noch wütet, findet man Kinderleichen im Wald; der Geheimdienstmann Leo Demidow  will die Fälle klären, aber die Partei verbietet es ihm. Im vollkommenen Kommunismus kann es solche  Verbrechen gar nicht geben, weil ja das irdische Paradies vor der Tür steht. Leo ist als Kriegsheld und zunächst unantastbar, aber als er aber hartnäckig weiter ermittelt, spielt er mit seinem Leben. Seine Frau wird als Spionin denunziert was im Normalfall  die Erschießung nach sich zieht. Doch man verbannt die beiden in die düsterste Provinz. Leo, der bislang politische Abweichler ans Messer geliefert hat, ist desillusioniert, er führt einen aussichtslosen Kampf um die Wahrheit und als ihm seine Frau eröffnet, dass sie ihn nur geheiratet hat, weil sie sich fürchtete ihn abzuweisen und deshalb in der  Todeszelle zu landen, bricht seine Welt zusammen. Smith versteht es, mit großer Eindringlichkeit und Meisterschaft, die Atmosphäre der ständigen Bedrohung erfühlbar zu machen. Wer ist wirklich so stark, seinem Partner der Leben zu retten und dafür sein eigenes zu verlieren? Alle natürlichen Loyalitäten lösen sich in den Zeiten des Terrors auf, der Mensch wird auf  den nackten Überlebenstrieb reduziert. Das ist das eigentlich Schaurige an diesem packenden Roman: die Brüchigkeit der Zivilisation, demonstriert nicht an einem erfundenen, sondern historischen Beispiel.

Charles Todd: Zeit der Raben, Heyne

Stimme im Kopf
Heute nennt man es Belastungstrauma, damals, nach dem Ersten Weltkrieg, hieß es Schützengrabenneurose. Wie auch immer, Inspektor Rutlege ist seit seinem Einsatz in Frankreich fürs Leben gezeichnet. Er fürchtet sich vor Bindungen, hat Gedächtnislücken, übelste Panikattacken und ist wuterfüllt, wenn er an die arbeitslosen Kriegsinvaliden denkt, die betteln gehen müssen, während die Verantwortlichen für die sinnlos in den Tod geschickten jungen Männer anscheinend ohne Gewissensbisse weiterleben. Er hingegen leidet an Schuldgefühlen, weil er die grausamen Schlachten überlebt hat. Rutledge hat seitdem einen unsichtbaren Begleiter, den Geist eines Kameraden, der im Krieg gefallen ist und der Kommentare und Warnungen abzugeben pflegt. Charles Todds beschädigter Held geht seiner Profession in einer Zeit der gesellschaftlichen Umwälzungen nach. Nicht nur der Krieg hat viele junge Männer hinweggerafft, die große Grippeepidemie von 1918  reduzierte die Bevölkerung weiter und schuf ein Klima der allgemeinen Verunsicherung. Die Todesstrafe ist noch nicht abgeschafft, umso größere Verantwortung trifft den Ermittler, der ohne Psychologen, DNA-Analysen, Forensik und ohne Handy im ländlichen England einen merkwürdigen Mordfall aufklären soll. Ein Polizist wird von einem Pfeil getroffen, als er in einem unheimlichen Wäldchen, das kein Einheimischer betritt, nach der Leiche eines verschwundenen Mädchens sucht. Rutleges Erscheinen im Dorf löst wenig Begeisterung aus, jemand scheint hinter dem Inspektor her zu sein, der sich so gut wie unsichtbar machen kann. Der verletzte Kollege hütet ein Geheimnis, aber manche Keller bergen noch viel grässlichere Überraschungen. Ein vorzüglicher historischer Krimi in Molltönen, welcher in Form eines eher unscheinbaren Taschenbuchs daherkommt, aber nicht übersehen werden soll.

Verehrung eines kugeligen Götzen
Der Restaurator Willibald Adrian Metzger fühlt sich unwohl, denn er ist umgeben von einer brüllenden Menschenmenge. Ins Fußballstadion ist er nur seiner Freundin zuliebe mitgegangen. Im flutbelichteten Hexenkessel des Fußballstadions beobachtet er seine Danjela nun mit wachsendem Erstaunen bei der Verehrung eines kugelförmigen Götzenbildes. Das Ganze wird Metzger besonders zuwider, als er die Fans rassistische Parolen schreien hört. Der schwarze Tormann, angeblich ein As, erregt wegen seiner Hautfarbe den Unmut der Fans, zumal er einen einheimischen Spieler aus dem Tor verdrängt hat. Als der Mann plötzlich tot zusammenbricht, schaut alles nach einem Herzinfarkt aus, doch Kwabena Owuso wurde vergiftet und das lässt Danjela, die selber eine "Zugewanderte" ist, keine Ruhe. Doch sie ist zu neugierig und wird lebensgefährlich verletzt. Einfach eine Tat rechtsradikaler Idioten, die sich in einer Spelunke verschanzen und dort dumpfen Saufgelagen nachgehen? Thomas Raabs zweiter Krimi kommt zeitgerecht auf den Markt und wieder steht der unsportliche, prinzipiell gemütliche Antiquitätenrestaurator Metzger im Mittelpunkt. Er ist eine bodenständige Figur, mit der man sich leicht identifizieren kann, weil er sich mit sympathischer Amateurhaftigkeit betätigt und daher öfter in gröberen Schwierigkeiten landet, was übrigens auch für den  Inspektor Pospischill gilt. Das gibt Anlass zu alltagstauglichen philosophischen Abschweifungen, welche leicht pessimistisch eingefärbt erscheinen. Denn wenn ein Schurke aufgeflogen ist, folgt gleich der nächste nach, der ist nur jünger, smarter und noch etwas verschlagener. Ein Schuft, wer da Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sieht!

Johan Theorin: Öland. Piper

Vergilbte Fotos
Wenn es Herbst  wird auf der schwedischen Insel Öland dann reisen all die Sommergäste ab, der Nebel wälzt sich über das Grasland und die Küste. An so einem Tag verschwindet der kleine Jens spurlos. Das Leben seiner Mutter Julia wird für immer überschattet sein und sie wird sich viele Jahre lang vorstellen, dass ihr Kind noch lebt. Als ihr betagter Vater anruft und ihr erzählt, dass ihm jemand eine Kindersandale geschickt hat, kehrt die depressive Julia auf die Heimatinsel zurück. Johan Theorin baut seinen umfangreichen  Roman nicht nach dem typischen Krimi-Muster auf. Hier ermittelt kein offizieller Vertreter des Gesetzes, denn der Fall des abgängigen Kindes ist längst zu den Akten gelegt worden. Es sind Erinnerungen und Vermutungen von ein paar alten Inselbewohnern die die Ereignisse ins Rollen bringen. Immer wieder erzählen sie von einem besonders bösartigen Jungen, der seinen Bruder ertränkt haben soll. Dieser Nils Kant soll später auch zwei deutsche Soldaten, die sich auf die Insel hatten retten können, erschossen haben. Überhaupt wird Nils alles Böse zugeschrieben, was auf dem beschaulichen Eiland passiert ist, sogar Dinge, die Nils niemals getan haben kann, denn Jens ist erst zehn Jahre nach der Beerdigung des Sündenbocks verschwunden. Nun also ist die Sandale des kleinen Jens aufgetaucht, der Absender ist unbekannt, Julia findet einen Freund ihres Vaters tot in einem Steinbruch und lernt den Polizisten kennen, dessen Vater vor vielen Jahrzehnten vom flüchtenden Nils Kant getötet worden ist. Theorins unheimliche Hommage an eine karge Insel lebt von den Naturstimmungen, der Verlangsamung, dem Rückblick in das vorige Jahrhundert. Theorin schreibt, er habe aus den Erinnerungen seines Öländischen Großvaters geschöpft und so liest sich auch die bedächtige Entwicklung eines fesselnden Heimat-Dramas, in dem vergilbte Fotos, greise Männer und südamerikanische Impressionen die Hauptrolle spielen. Theorin plant noch drei weitere Jahreszeiten- Krimis auf seiner Lieblingsinsel. Wir dürfen gespannt sein.

Das Dilemma des Unterhändlers
Frank, ein ehemaliger Cop und traumatisierter Ex-Soldat werkt als Mediator, das heißt, dass er Leute mit schlagenden Argumenten zur Räson bringt, die zum Beispiel ihren Alimentezahlungen nicht nachkommen. Ein ganz anderes Kaliber ist ein Auftrag, den Frank erst gar nicht annehmen will. Pat Carson, ein millionenschwerer Bauunternehmer aus Melbourne wird erpresst. Die Enkelin seines Sohnes Tom, Ann, fünfzehn, wurde entführt. Die Entführer warnen vor der Einschaltung  der Polizei. Frank ist der Meinung, man müsste das trotzdem tun. Die Carsons jedoch sind bereit, allen Anweisungen der Verbrecher zu folgen. Frank steckt in einem üblen Dilemma. Versucht er ganz allein, den Entführern das Lösegeld zu übergeben und lassen die ihre Geisel trotzdem nicht frei ist er verantwortlich für den Tod des Mädchens. Es bleibt nicht viel Zeit und Frank findet schnell heraus, dass der Chauffeur der Familie, der den lebenslustigen Teenager täglich zur Schule gebracht und abgeholt hat, sich erweichen ließ und das Mädchen bei einem Plattenladen abgesetzt hat. Ab da blieb Ann verschwunden. Frank sucht nach alten Feinden, die sich der rücksichtslose Familienpatriarch gemacht haben könnte und er merkt bald, dass gemauert wird, wenn er versucht, die Machtstrukturen innerhalb des Clans zu ergründen. Inzwischen betonen die Entführer die Dringlichkeit der Lösegeldabgabe mit der Zusendung abgeschnittener Finger. Aber ist es wirklich Geld, das sie wollen? In Peter Temples krimineller Welt gibt es keinen Weichzeichner und von happy ends scheint der Star der australischen Krimiszene auch nicht viel zu halten. Stattdessen: witzige, beißende Dialoge, und ein wirklich gruseliger, brutaler Show-Down.

Tana French Grabesgrün. Scherz

Die Geheimnisse des Waldes
Eine Debutantin schreibt einen originellen, 600 Seiten starken Krimi ohne Durchhänger. Das Kunststück ist der in Dublin lebenden Autorin Tana French gelungen. Sie entwickelt eine klassische Krimihandlung mit einem Mord am Beginn und den nachfolgenden Mühen der Aufklärung, aber sie löst nicht alles restlos auf, Geheimnisse bleiben - vor allem die des Ich-Erzählers und Ermittlers. Rob Ryan leidet an einer Amnesie. Er weiß, dass seine zwei kleinen Freunde aus dem Wald, der ihr täglicher Abenteuerspielplatz war, nie mehr aufgetaucht sind. Rob wurde damals ohne Erinnerung aber unverletzt gefunden. Jetzt kehrt er als Erwachsener an den Schauplatz des Dramas zurück, denn auf dem Gelände, auf dem sich nun Archäologen tummeln, wurde ein Mädchen ermordet und auf einem archaischen Opferaltar abgelegt. Rob müsste sich für befangen erklären und sich aus den Ermittlungen zurückziehen. Aber er ist von dem Fall gefesselt und hofft, dass sich niemand, schon gar nicht seine Kollegin Cassie, an die alte, unaufgeklärte Geschichte erinnert. French entwickelt komplizierte Charaktere, sie legt subtile Spuren, die scheinbar im Sand verlaufen. Das Unbehagen, das die Familie des ermordeten Mädchens auslöst wird zum Leitthema, als herauskommt, dass der Vater der Toten als Jugendlicher ein Mädchen vergewaltigt hat. Indessen verschwindet der unheimliche Wald unter dem Angriff der Bulldozer; die Archäologen versuchen zu retten was zu retten ist, denn  das Gelände wird demnächst unter dem Asphalt einer Straße begraben sein. Was wird noch alles verschwinden? Eine gute Story, ein eigener Stil, - erfreulich: Fortsetzung in Aussicht!

Heinrich Steinfest: Mariaschwarz. Piper

In der Tiefe des Alpensees
Ein Mann und seine Tochter auf dem Flug von Wien nach Mailand: die Kleine verbringt ihre Zeit abwechselnd beim Vater in Wien und bei der geschiedenen Mutter in Italien. Auf dem Weg zur Mutter hat das Taxi einen Unfall. Während der Mann im Auto eingeklemmt ist und der Fahrer stirbt, wird  die Tochter von einer Unbekannten aus dem brennenden Wrack befreit und entführt. Die Ex- Frau des Verunglückten Vinzent Olander  behauptet später, es habe gar kein Kind gegeben. Ist Vinzent einfach verrückt geworden? Oder gibt es eine Verschwörung des Schweigens? In Steinfestes neuem Krimi ist nichts wie es scheint, auch das Dorf Hiltroff irgendwo in den Alpen in das sich der seiner Tochter Beraubte zurückzieht, ist alles andere als eine harmlose Landidylle. Dort wabert der Nebel, es regnet dauernd, sodass man schon beim Lesen Rheuma kriegt. Zudem gibt es dort einen schwarzen, unergründlichen See, in dem niemand badet und deshalb ist es sehr merkwürdig, dass im tiefen Wasser durch Zufall ein Frauenskelett gefunden wird. Chefinspektor Lukastik, ein "interessanter Ungustl" aus Wien mit bemerkenswert wenigen Emotionen und einem bizarren Liebesleben erscheint erst auf Seite 120. Auch er wird mit der absurden Geschichte Vinzents konfrontiert und findet schließlich eine unkonventionelle Lösung.
Steinfestes absolute Unzurechnungsfähigkeit was vorausschaubare Entwicklungen betrifft, die sich  gemütlich ins erwartbare Schema eines Krimis einpassen, macht die Lektüre sowohl amüsant als auch irritierend. Zwar mag „Mariaschwarz" etwas weniger exzentrisch als die vorigen Romane erscheinen, es bleiben aber noch genug Haken und Fallen, um den Leser unentwegt über seine eigenen eingefahrenen Denkmuster stolpern zu lassen.

Nachricht aus der Hölle
Seine Eltern haben ihn zum Schlafen zu einem Nachbarn geschickt. Deshalb entgeht der kleine Bub der Deportation nach Auschwitz. 60 Jahre später spricht Herr Hofmann in Paris mit einer Journalistin von „arte" zum ersten Mal über seine Geschichte, die er so viele Jahrzehnte lang verdrängt hat. Nach der Sendung meldet sich eine alte Dame, die einen Brief von Hofmanns ermordeten Vater hütet. Im Kuvert finden sich ein verschlüsselter Text und die unbekannte Partitur einer Operette von Jaques Offenbach. Ein Fund, der ganz offensichtlich sehr viel Geld wert ist. Soweit die Rahmenerzählung. Der TV-Auftritt des alten Mannes setzt eine unheimliche Kettenreaktion in Gang. Die Journalistin, die Hofmann interviewt hat, will ihm helfen, die Partitur zu verkaufen und gleichzeitig eine tolle Story an Land ziehen. Sie fährt nach Deutschland, wo die Musikverlage begierig auf Verhandlungen warten. Zunächst begreift niemand, dass die Ermordung von fünf Restaurantbesuchern in Frankfurt mit der Geschichte von Hofmann zusammenhängt. Die Journalistin scheint auch am Tatort gewesen zu sein, aber sie ist verschwunden. Hauptkommissar Robert Marthalers Job wird immer aufreibender. Es gibt weitere Tote, der mediengeile Innenminister macht Druck und würde den aufmüpfigen Beamten am liebsten suspendieren. Jan Seghers alias Matthias Altenburg zeichnet in seinem dritten Krimi die  Figuren glaubwürdig, mit all ihren Fehlern, ihrem schuldbewussten Wegschauen, wo das Grauen zu unerträglich wird, ihren Vorverurteilungen und speziellen Macken. Eine stimmiger, packender Roman, der  Vergangenheit und Gegenwart schmerzlich verbindet, aber auf Klischees verzichtet und zudem über ein kurzes Register mit Quellen zum Weiterlesen verfügt .

Eva Rossmann: Russen kommen. folio

Der Russe auf der Dachterrasse
Einerseits sind sie gern gesehene Gäste wenn sie ihr Geld großzügig unters Volk bringen, andererseits macht man sich über sie lustig: die neureichen  Russen mit ihrem peinlichen Geschmack und den viel zu geschminkten, viel zu jungen Begleiterinnen sind ein Klischee, dem Mira Valensky bei ihrem Schiurlaub in Arlberg leibhaftig begegnet. Warum sich die vier Russen in der noblen Schihütte panikartig durch den Küchenausgang entfernen, während ein Helikopter mit weiterer Prominenz landet, erregt die Neugierde der Journalistin, die mit dieser Momentaufnahme erst wenig anzufangen weiß. Zurück in Wien, schlägt sie ihrem neuen Chefredakteur dennoch eine Russen-Reportage vor, die erst auf wenig Begeisterung stößt. Das ändert sich, als ein  Oligarch gefoltert und tot auf einer Dachterrasse am Wiener Graben gefunden wird. Miras Recherchen ergeben einen unklaren Zusammenhang mit den Vorkommnissen auf dem Arlberg. Mithilfe der Putzfrauenconnections ihrer Freundin Vesna ist sie den offiziellen Ermittlern ein
Stück weit voraus; der Ortswechsel zwischen Arlberg, Wien und Moskau bringt Schwung in die sonst eher harmlose Geschichte. Mira lernt aber auch noch eine ganz andere Seite des Russen-Booms kennen. Auf dem Land erinnern sich die älteren Frauen noch allzugut an den Schreckensruf „die Russen kommen", an die Vergewaltigungen und Plünderungen  und stehen Investoren wir dem Oligarchen Dolochow, der Land kaufen will sehr ablehnend gegenüber. Geldgier ist eine starke Triebfeder, Rache auch- doch nach so langer Zeit? Rossmanns neuer Krimi spart exzessive Grauslichkeiten aus. Das kann durchaus erholsam sein, zumal sie wieder allerlei fachliche Anmerkungen zu exzellentem Essen und guten Weinen macht. Insgesamt ein unaufgeregter Krimi, der nebenbei mit fixen Vorstellungen aufzuräumen versucht: die Gauner sind nicht nur die anderen.

Zorniges Manifest gegen die Todesstrafe
Ein Siebzehnjähriger sitzt in Ohio in der Todeszelle. Er soll seine Freundin erschossen haben. Da es sich um die Tochter eines Beraters des Gouverneurs handelte, ist Härte angesagt. Dass der Junge das Mädchen nicht umgebracht hat, glaubt ihm keiner außer dem Aufseher.
Jahre später fällt ein Mann in Schweden durch einen Raufhandel auf. Seine Identität scheint gefälscht zu sein. Recherchen ergeben, dass es sich um jenen Jungen handelt, der in den USA zum Tode verurteilt wurde und anscheinend entkommen war. Das Autorenduo Roslund und Hellström beschäftigt sich auch im dritten Buch wieder mit dem unerschöpflichen  Thema Rache und Wiedergutmachung und wirft ethische Fragen von großer Tragweite auf. Ihre minuziöse und abstoßend realistische Schilderung der Rituale, mit denen Menschen von Staats wegen zu Tode gebracht werden, ist schwer erträglich, - ganz davon abgesehen, dass es Fehlurteile gibt und Unschuldige umgebracht werden. Dass das Rachebedürfnis das Leben der Angehörigen des Opfers zerstört und durch den Tod des - vermeintlichen- Mörders nie gestillt werden kann, ist eine weitere Einsicht.  Dann taucht die Frage auf, ob es möglich ist, einen zum Tode Verurteilten wieder an die USA auszuliefern? Ja, denn Europa ist feige, sagen die Autoren; Schweden würde den Wünschen der Großmacht nachgeben, nicht ohne zuvor den Gefangenen nach Moskau zu exportieren, sodass man an der Auslieferung nicht unmittelbar beteiligt erscheint. Der Plot ist etwas zu langatmig, der Schluss entschädigt dafür. Wer in Krimis nichts als Unterhaltung sucht ist mit diesem zornigen, ausgesprochen widerwärtigen, aber notwendigen  Buch falsch beraten.

Marcuses Wasserglas
An sich ist das ein ganz einfacher Kriminalfall: in Berlin wird ein Antiquitätenhändler erschlagen, weil er -vermutlich- etwas versteckt hat, was ein anderer haben will. Doch kaum fügt der Autor die historische Dimension der 68er hinzu wird das Ganze kompliziert und hochdramatisch. Denn der saturierte Schürzenjäger ist mit Artefakten aus den 68er-Bewegung reich geworden als da sind ein Wasserglas aus dem Herbert Marcuse trank, der allererste Spülschwamm der Kommune 1 und andere teure Reliquien. Was hat der Mörder gesucht und nicht gefunden? Weitere Weggenossen der Studentenrevolte werden umgebracht und Hauptkommissar Pachulke  schaut hilflos zu, wie ein Veteran nach dem anderen erschlagen wird. Rob Alef, Jahrgang 19675, nähert sich dem Thema aus der jüngeren Zeitgeschichte nicht bierernst, sondern verfremdet es durch surreale Einlagen. Er verwendet Science-Fiction-Elemente und treibt manche politisch korrekten Moden auf die absurde, spezifisch bundesdeutsch wirkende Spitze. Seine Figuren, denen ein liebevoll geschildertes Museum gewidmet ist, sind erfunden, doch bleiben die einst realen Handlungsträger als Vorbilder unschwer erkennbar. Heldenkult und  Mythenbildung werden lächerlich gemacht, und die allgemeine Unbildung reizt ebenfalls zur Satire: was sollte denn das Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" anderes sein, als ein Ratgeber für Zeitmanagement?
Wenigstens gibt's da noch die schlaue Pinguintruppe auf dem Müggelsee, ohne den Pachulke ein böses Ende nehmen würde. Der Schnee von gestern ist die Lawine von morgen, steht auf der letzten Seite. Ist das nun tröstlich oder besorgniserregend?

Ilka Remes: Die Geiseln. dtv

Überwindung des Vaters
Die Konstruktion scheint simpel: ein Geiseldrama mit Überfall, Forderungen, und mehr oder weniger glücklicher Befreiung der Opfer. Aber der Thrillerautor Ilka Remes hat mehr auf Lager. Da ist vor allem die politische Dimension seines Romans, denn  bei den Verbrechern handelt es sich um serbische Nationalisten, die Rache üben für die Inhaftierung eines ihrer Anführer. Ein serbischer Oberst war vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verurteilt und nach Finnland ins Gefängnis geschickt worden. Seine beiden Söhne  haben einen raffinierten Plan ausgeheckt, um den Oberst freizupressen. Sie kidnappen die schwangere Frau eines Polizisten und erzwingen so die Flucht des Vaters. Dabei läuft einiges schief und der zweite Versuch ist noch spektakulärer. Am finnischen Unabhängigkeitstag, dem 6.Dezember, als alle zivilen und militärischen Führungsspitzen des Landes zur Feier im Präsidentenpalast versammelt sind, werden prominente Geiseln genommen, darunter auch der Präsident Finnlands. Was tun? Mann kann das Leben des Präsidenten, der zahlreichen Diplomaten und Politiker nicht gefährden, also muss man auf die Forderungen der Terroristen eingehen. Sie wollen das Land mit einem Flugzeug und unbekanntem Ziel verlassen. Was sie nicht wissen: unter ihren Gefangenen befindet sich auch Kommissarin Johanna Vahtera, die auf Deeskalationen solcher Situationen spezialisiert ist. Remes verkompliziert das Drama durch ausgefuchste  Schachzüge der Verfolger, der Verfolgten und ihrer unsichtbaren Hintermänner. Er kritisiert einerseits Finnlands rückgratlose, allzu russenfreundliche Außenpolitik, andererseits vermeidet er Schwarz-Weiß-Malerei. Auch die serbischen Terroristen haben ihre Traumata, ihre Erinnerungen an umgebrachte Familienmitglieder und ihre kruden Vorstellungen von Ehre und Rache, von denen sie geprägt sind. Letztlich geht es um die Überwindung des Vaters und dessen archaischer Welt, denn nur so kann die Spirale von Gewalt und Gegengewalt gestoppt werden. Für einen Thriller wird da ganz schön viel transportiert und spannend ist er außerdem.  

Reijo Mäki: Die gelbe Witwe. Piper

Jäger des vergrabenen Schatzes
Das Ganze steuert von allem Anfang an auf den Abgrund zu. Kein Wunder, handelt es sich doch um einen finnischen Krimi und diese Erzeugnisse aus dem Norden sind per se schon nicht optimistisch. Erwartungsgemäß wird viel gesoffen, das Wetter ist meistens mies und an Bizarrerien ist kein Mangel. Etwa, wenn ein Kotzbrocken beschließt, wenigstens nach seinem Tod nett zu sein und verfügt, dass man seine Asche dazu verwenden möge, einem x-beliebigen Auto, das im Winter hängen geblieben ist als Streumittel zu dienen. Das hat zwar mit den kommenden Ereignissen nichts zu tun, ist aber eine durchaus passende Einstimmung: Ein korrupter, sexsüchtiger Bulle macht gemeinsame Sache mit der Unterwelt und spielt den treuen Familienvater. Eine frustrierte Lehrerein  heiratet einen Wirtschaftskriminellen und als der Knastausgang zwecks Heirat hat, benützt er die  Gelegenheit zur Flucht, wobei ihm Dankbarkeit gegenüber der genasführten Lehrerin fremd ist. Da man  länderübergreifend agiert, ist es logisch, dass die russische Mafia auch ein Wörtchen mitzureden hat wenn ein finnischer Gauner ausbricht und versucht, an seine vergrabene Beute zu kommen. Man probiert das zunächst auf der subtilen Schiene. Eine femme fatale tritt in Aktion, dann greift man zu härteren Bandagen. Mittendrin im Schlamassel der verrückte Privatdetektiv Jussi Vares, der uns schon mehrere Bände lang begleitet und dessen Steherqualitäten beeindruckend sind. Die Jäger des vergrabenen Schatzes geraten in wechselnden Konstellationen aneinander, der Countdown ist verheerend wie bei einem Shakespearschen Drama und bietet immer neue, knappe Überlebenschancen für Jussi und die Lehrerein. Dass der turbulente und witzige Krimi, der schon 1999 erschien, erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde, ist ein grobes Versäumnis.

Pensionist und Quantenphysik
Brügge, die Ikone der Schwarzen Romantik, steht am Beginn, das Bergland von Mexico am Ende einer außergewöhnlichen Reise. Als Inspektor Hannes Jensen die letzten Tage vor seiner Frühpension im Büro absitzt, passiert etwas Seltsames. Ein betrunkener Amerikaner mit zehnjährigen Zwillingssöhnen im Schlepptau behauptet, bedroht worden zu sein. Jensen nimmt das nicht ernst, beschließt aber, das Wohl der Kinder im Auge zu behalten, war doch selbst als Kind einer alkoholkranken Mutter ausgeliefert und kämpft mit seinen finsteren Erinnerungen. Am nächsten Tag ist der Amerikaner eines rätselhaften Todes gestorben und die Zwillinge verschwunden. Jensen hat das Gefühl, sich nicht genug um die Kinder gekümmert zu haben und beschließt, sie zu suchen. Da kommt ihm eine geheimnisvolle Blinde in die Quere. Sie will Jensen unbedingt begleiten und setzt ihre rigorosen Vorstellungen auch durch. Die Spuren in den USA weisen einmal mehr auf ein mysteriöses Kindermädchen hin, das die Kleinen angeblich mit sich genommen hat. Es soll sich um eine Heilerin handeln, die in einem schwer zu erreichenden Bergdorf lebt, aber der pensionierte Polizist und die herrische Blinde sind nicht die einzigen, die dorthin wollen. Reichlin ist ein sehr einprägsamer, origineller Erzähler. Er stattet seinen Ermittler mit einem exzentrischen Hobby aus: Jensen ist fasziniert von der Quantenphysik. Reflexionen über Ordnung und Unordnung des Universums, das Doppelspaltexperiment, Elektronen und Atome, Anziehung und Abstoßung ergeben Parallelen zum menschlichen Verhalten und sind in ihrer sprachlich präzisen Erklärung höchst spannend zu lesen. Vielleicht rafft sich Reichlin ja einmal zu einem Sachbuch auf: er könnte glatt Generationen von Physikmuffeln bekehren.

Lügen und Heucheln
„Dass ein Mann dich verarscht, ist nichts Besonderes- im Gegenteil, der Klassiker. Und falls er es noch nicht getan haben sollte, hängt die Möglichkeit die ganze Zeit wie ein Damoklesschwert über dir, denn dass er es früher oder später tun wird, ist sicher." Das sind die Erkenntnisse der betrogenen Ehefrau Ines, die eines Tages einen kitschigen Liebesbrief an ihren Mann findet, unterzeichnet mit „ganz die Deine". Was tun? Zunächst einmal herausfinden, wer „die Deine" ist. Die Sekretärin ihre bescheuerten Ehemanns, - das ist nicht schwer zu erraten. Aber dass Ernesto die Dame schubst, sie umfällt, auf einen Baumstamm aufprallt und tot ist, war nicht vorgesehen. Schon gar nicht, dass Ines Ernesto beim letalen Rendezvous beobachtet hat. Ines beginnt umgehend mit der Spurenverwischung ohne dem Tölpel zu sagen, dass sie alles weiß. Der bequemt sich schließlich zu einem verlogenen Teilgeständnis weil er von Ines ein Alibi braucht. Ines, die Großzügige verzeiht alles, deckt Ernesto und hofft, dass die in einem See versenkte Leiche niemals auftaucht. Denn, wo keine Leiche, da kein Mörder. Die Rückkehr zur Normalität erweist sich indessen komplizierter als gedacht und Ines muss zu drastischen Mitteln greifen. Der schlanke Debutroman der Argentinierin Claudia Pineiro ist gut an einem einzigen Abend zu lesen, denn er ist witzig, boshaft und mit Tempo geschrieben. Der Großteil der Geschichte entwickelt sich  aus der Ich-Perspektive von Ines, einen zusätzlichen Akzent erhält der Text durch die lakonischen Telefongespräche der pubertierenden Tochter, deren fatale Nöte von den mit Lügen und Heucheln beschäftigen Eltern gar nicht wahrgenommen werden. Die Hölle der Mittelstands-Bürger ist ganz schön heftig und der Teufel sitzt im Detail!

David Peace: 1983. Liebeskind

Wie durch ein schwarzes Glas
Alle, die Krimis eines herkömmlichen Schemas lieben, seien gewarnt: „1983" des hochgelobten britischen Autors David Peace  wird ihre Erwartungen ganz gewiss nicht erfüllen. Ja, es geht um einen Mörder, den Yorkshire-Ripper der für den Tod von mehreren Schulmädchen verantwortlich gemacht wird und es geht um einen reichlich devastierten Chief Superintendenten, dem man nicht im Finsteren begegnen möchte. Alles andere muss sich der Leser hochkonzentriert selbst zusammenbauen.
Expressionistisch anmutende Szenen erschweren von vornherein die Orientierung und vermitteln sofort ein Gefühl von doppelten, dreifachen Böden. Ein verwirrendes Labyrinth von Bildern und Gedanken, manches davon fast litaneiartig wiederholt, erzeugt einen eigenen Rhythmus. Ein Anwalt, der die Wahrheit herausfinden will, ein Verdächtiger, der von den Polizisten gefoltert wird, ein „Geständnis" ablegt, und dann in der Zelle angeblich  Selbstmord begeht, sind Dreh- und Angelpunkt von grimmig schwarzen Alpträumen. Die Bilder der vermissten kleinen Mädchen schieben sich übereinander, es gibt keine Farben, man sieht die Personen wie durch ein schwarzes Glas, mit dem man Sonnenfinsternisse beobachtet. Selbst im Privatesten, in der Familie, gibt es keine Hoffnung, denn auch da hasst man einander, weil es sich schon längst nicht mehr um eine freiwillige, sondern um einen Zwangsgemeinschaft handelt.  
Peace vollendet mit 1983 sein Quartett (1974, 1977, 1980) um den Serienmörder, der ihn in seiner Kindheit in Yorkshire auf traumatische Weise beschäftigt hat und schrieb gleichzeitig eine Art Alltagsgeschichte von Großbritannien. In „1983" zitiert er immer wieder die  Schlagzeilen der Medien, zum Suche nach dem Mörder, zur Thatcher-Ära, zu IRA-Attentaten, zum Falkland-Krieg und definiert so das Umfeld, in dem schockierend klar wird, dass es keinen Verlass auf das Gesetz und seine korrupten, sadistischen Vertreter gibt. Hilfreich wäre jetzt eine Gesamtausgabe der vier Bände, die beispiellos die jüngste Geschichte Englands und die Entwicklung eines kompromisslosen Erzählstils dokumentieren.

Auf der Suche nach der verschwundenen Sängerin
Ins glanzvollere Havanna der fünfziger Jahre taucht Mario Conde, der uns schon im Zyklus des „Havanna-Quartetts" begleitet hat, ein. Conde hat vor zehn Jahren den Polizeidienst desillusioniert quittiert. Er ernährt sich mühsam vom Aufstöbern und Verkauf alter Bücher. Der Kriminalfall entwickelt sich ganz langsam: In der sehr wertvollen Bibliothek betagter Geschwister stößt Conde auf wahre Schätze von Erstausgaben und längst vergriffenen Prachtbänden. Die beiden Alten müssen die Bücher verkaufen um nicht zu verhungern. Mario findet in einem Buch einen vergilbten Zeitungsausschnitt in dem von einer bekannten Bolerosängerin berichtet wird, die sich plötzlich entschlossen hat, für immer mit dem Singen aufzuhören. Das Schicksal dieser jungen Frau beschäftigt ihn, er versucht herauszubekommen, was vor 40 Jahren aus ihr geworden ist und er erfährt, dass sie sich angeblich umgebracht hat. Ihre einzige Schallplatte war im Besitz von Condes Vater, im Schrank unter dem Krimskrams der Jahrzehnte vergraben; Kindheitserinnerungen fallen über Conde her. Paduras Rückblick in die jüngere Geschichte Kubas ist voll Nostalgie. Es ist das Havanna vor der Revolution das da beschrieben wird, als Meyer Lansky und andere große Gangsterbosse Geld nach Kuba brachten und in Hotels und Bordelle investierten. Es ist das Havanna der florierenden Nachtklubs, der Musik und der Filmstars, als das Leben zumindest in der melancholischen Rückschau- sorgloser schien. Paduras Drama um eine verlorene Liebe ist ein verzaubertes Labyrinth für Bücherliebhaber voll Verweisen auf kubanische Historiker und exotische Werke. Die tiefe Enttäuschung über die politische Entwicklung in der Gegenwart ist der schroffe Kontrast vor dem die Geschichte unwiderstehlich zu leuchten beginnt.

Fataler Fahrradkurier
Sie leben von Gelegenheitsjobs und ein bisschen Drogenhandel, und weigern sich, erwachsen zu werden. Das Dasein ist beschaulich in dem alten Londoner Haus, das einer aus der Wohngemeinschaft vor Jahren gekauft hat und keiner sieht ein, dass sie die charmant abgewohnte Villa verlassen sollen bloß weil Lea, dieses kaltschnäuzige Miststück, den Besitzer heiraten und das Haus für sich haben will. Auch Astrid ist über ihre bevorstehende Kündigung nicht erfreut. Sie überbrückt die Zeit, die sie braucht um herauszufinden, was sie einmal machen will, als Fahrradkurier. Die Kündigung wird bald ihre geringste Sorge sein. Denn neuerdings werden Personen, die mit ihr Kontakt hatten, ermordet: erst eine Nachbarin, die ihre Autotür aufgerissen und Astrid böse zu Sturz gebracht hat, dann eine reiche Zicke, von der sie ein Paket abholen soll und schlussendlich die in der WG allgemein gehasste Lea. Nicci French teilt ihren Krimi in zwei Teile. Erst wird die Geschichte Astrids erzählt, dann folgen die Reflexionen des Mörders, der die Mitglieder der WG manipuliert und wie Marionetten lenkt. Dadurch wird jedoch die Spannung herausgenommen, weil der Leser ungefähr in der Hälfte des Buches schlauer ist als die sechs Protagonisten, die mit einer hässlichen Gruppendynamik kämpfen und einander bald aller Schandtaten verdächtigen. French kann nett erzählen, doch sie überfordert ihre Leser nicht durch allzu viel Tiefgang. Ihre Ermittler sind keine Geistesgrößen mit eigenem Profil und die Auflösung der mysteriösen Mordserie scheint auch ein wenig zu einfach vonstatten zu gehen. Gerade deswegen eignet sich ihr neues Opus gut für den Urlaub, denn es unterhält, ohne einen derart mit Beschlag zu belegen, dass man  seine Umgebung völlig ausblenden muss.

Magdalen Nabb: Vita Nuova. Diogenes

Das Dilemma des Maresciallo
Der vierzehnte Florenz-Krimi der gebürtigen Engländerin Magdalen Nabb, die 2007 gestorben ist, handelt in der Hauptsache von einem Gewissenskonflikt. Der wohlbekannte Maresciallo Guarnaccia  soll den Mord an einer jungen Frau untersuchen, die in einer herrschaftlichen Florentiner Villa erschossen worden ist. Der Besitzer des Hauses und Vater des Opfers ist ein Nobelzuhälter mit Verbindungen zu politisch einflussreichen Kreisen. Guarnaccia  ermittelt ohne Rücksicht auf heimliche Seilschaften und bekommt das bald zu spüren. Er wird  vor die Alternative gestellt: entweder er hört auf, allzu genaue Ermittlungen anzustellen oder er wird mitsamt Familie in irgendein ödes Kaff zwangsversetzt. Das würde dann auch noch knapp vor der Pension sein ganzes Leben aufs übelste umkrempeln. Was soll Guarnaccia tun? Er ist kein Held, aber er will auch kein Mitläufer sein. Guarnaccia malt sich seine Zukunft in den düstersten Farben aus, doch er ist auch stur. Denn es  geht nicht nur um die banalen Laster der üblichen betuchten Bordell-Besucher, sondern - neben anderen Florentiner Honoratioren- um den Polizeichef, einen Bischof und den Staatsanwalt, der den Fall übernommen hat. Eine Prostituierte aus Osteuropa gibt Guarnaccia Hinweise auf minderjährige Sexsklavinnen und der Maresciallo macht sich zusammen mit einem einschlägig bewanderten Journalisten auf Spurensuche. Außerdem legt er seinem Vorgesetzten, den er eigentlich nicht in sein Dilemma hineinziehen wollte, sein Entlassungsgesuch auf den Schreibtisch. Nabb hat in ihren wohltemperierten Romanen eine Identifikationsfigur geschaffen, die in ihrer Menschlichkeit und ihren Schwächen glaubhaft ist und das Zeug zum Klassiker hat.

Hunde und Basilikum
Eine schöne Immigrantin schnappt sich einen alten reichen Mann. Der wird auf bizarre Weise ermordet: Man hat ihm bei einem einsamen nächtlichen Spaziergang aufgelauert und einen Wolf auf ihn gehetzt. Die hohe Lebensversicherung wird die Femme fatale kassieren, die neben ihrem alten Ehemann auch noch einen jungen Geliebten hatte und der züchtet ganz zufällig Hunde. Ganz klar, die Witwe ist die Mörderin oder zumindest die Auftraggeberin. Die Versicherungsgesellschaft will ihr Geld behalten und heuert zur Sicherheit Bacci Pagano an, den Genueser Privatdetektiv mit Hang zur klassischen Musik und gutem Essen, der schon in fünf Romanen von Bruno Morchio sein Wesen treibt. Die Atmosphäre der nicht gerade als glamourös verschrieenen Stadt Genua mit ihren labyrinthischen Immigrantenvierteln, verfallenden Häusern und dem Denkmal für Kolumbus bildet den originellen Hintergrund für eine nachdenkliche Geschichte, die immer komplizierter wird, je weiter sich Bacci Pagano darauf einlässt. In der Hommage an die Altstadt, wo Einwanderer und alteingesessene Reiche nicht separiert sind, sondern neben- und übereinander wohnen und es den Immobilienhaien noch nicht gelungen ist soziale Ghettos produzieren, spürt man die Liebe des Autors zu seiner Stadt. Während der Alt- 68er Pagano in Genua und im Umland nach Spuren sucht, bis ihm eine Dea ex machina begegnet, singt er das Loblied auf die versteckten Trattorias in denen man hervorragend völlern kann. Jedenfalls sind hier sogar die Kräuter einmalig, denn „die Globalisierung ist dem Basilikum wurst". Morchio, der nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Psychologe und Therapeut werkt, nennt als Vorbilder Montalban, Izzo und Chandler was im Falle des betreffenden Krimis keine schlechte Mischung ergibt.

Wilde Intrigen in Rom
Das italienische Autorenpaar Monaldi & Sorti ist Meister in der fugenlosen Verbindung von historisch verbürgten, wenn auch oft verdrängten Fakten und Fiktion. Im neuen Opus erzählt der Ziehsohn von Leonardo da Vinci  aus der Perspektive von „unten" vom Romaufenthalt seines Meisters. Die Tradition des Schelmenromans wird hier wieder aufgegriffen: Salaì, neugierig, verfressen und schlau, ist immer zu sexuellen Abenteuern bereit. Gern macht er sich über seinen unbeholfenen Meister und seine Gelehrtenfreunde lustig. Der Hintergrund ist freilich ein ernster. Im Grunde geht es darum, wie Geschichtsschreibung für die jeweiligen politischen Zwecke manipuliert wird. Und, wie im Falle der Germania des Tacitus, Schriften auch schlicht gefälscht wurden, um ein Gegenbild zu den so bösen rezenten Zeiten zu haben. Monaldi und Sorti haben gründlichst in den Archiven recherchiert und irritierende Fakten zutage gefördert. Etwa der schlechte Leumund des Borgia-Papstes Alexander: der beruht zum Großteil auf der Gegenpropaganda in Deutschland; so wurde gezielt für die Reformation und gegen den katholischen Klerus Stimmung gemacht. Salaì begegnet in Rom allerlei geheimen Bünden, an ihrer Spitze dem ruchlosen Schreiber des Papstes, Johannes Burkard, der sogar eine Boccaccio- Erzählung plagiierte, um dem Papst zu schaden. Der Anhang mit den Quellen und Verweisen ist mindestens so spannend wie die wilden Intrigen in Rom: ein intellektueller Genuss im Gewande eines historischen Krimis und eine harsche Aufforderung an die Historiker-Kollegen, mehr Quellenforschung zu betreiben.

Gnade, Rache und Strandspaziergang
Die zwei Räuber haben seine Frau und sein kleines Kind als Geiseln genommen und erschossen. Seitdem ist der Geschäftsmann Silvano Conti in eine tiefe Depression verfallen. Einer der Täter wurde erwischt und bekam lebenslänglich. Der andere ist mit der Beute entkommen und konnte nie identifiziert werden. Als der einsitzende Verbrecher nach fünfzehn Jahren um Haftverschonung ansucht, weil er an Krebs erkrankt ist, soll Silvano sein Gnadengesuch befürworten. Erst weigert er sich, aber dann dämmert ihm, dass er nur so auf die Spur des zweiten Räubers kommen kann. Denn Raffaello wird wohl, sobald er in Freiheit ist, mit dem Komplizen Kontakt aufnehmen und Silvano könnte endlich herausfinden, wer von den beiden seine Familie umgebracht hat. Silvano tut also gut daran, Vergebung zu heucheln. Massimo Carlotto entwickelt hier mit einfachen, doch wirkungsvollen Mitteln ein teuflisches Spiel. Indem er abwechselnd Silvano und Raffaello erzählen lässt, beleuchtet er die Perspektiven des Opfers und des Täters ohne allzu große Sympathien aufkommen zu lassen. Je tiefer sich der Leser sich vom Text gefangen nehmen lässt desto unsicherer wird seine vermeintliche Gewissheit was gerecht, gut  oder böse ist. Wen heilt Vergebung? Befriedigt Rache oder beschädigt sie den Rächer? Carlotto, der selbst Erfahrung mit Rache und Gerechtigkeit hat - er saß zu Unrecht wegen Mordes im Gefängnis- bedient sich einer sehr direkten, brutalen Sprache. Plastisch und zynisch schildert er den Knastalltag und gießt beißenden Spott über unterbeschäftigte Damen auf Sinnsuche aus, die sich mitleidsvoll um das Wohlergehen einsitzender Gewaltverbrecher kümmern und sich keine Gedanken über deren Opfer machen. Es ist ein böses Buch von einem, der sich keinen Illusionen über die Menschen hingibt: im Zweifelsfalle kann jeder zur Bestie werden. Fragt sich bis zuletzt, wer von dem unseligen Duo überbleibt und am Strand von Martinique spazieren gehen wird.

Henning Mankell: Der Chinese. Zsolnay

Ein Massaker und  viele Zufälle
Neunzehn Menschen, massakriert in einem abgelegenen schwedischen Dorf, ein Fall, der Aufsehen erregt und rätselhaft bleibt. Die Richterin Birgitta Roslin entdeckt durch Zufall, dass sich unter den Opfern auch die Pflegeeltern ihrer verstorbenen Mutter befinden. Alte Briefe bringen sie auf eine 150 Jahre zurückliegende Spur, die den Ermittlern ziemlich unwahrscheinlich vorkommt. Weit weg, in Peking, liest einer von den neuen Machthabern ebenfalls in alten Papieren. Es sind die Aufzeichnungen eines geschundenen Vorfahren, der  1863 als Zwangsarbeiter in die USA verschleppt worden war. Henning Mankells Versuch, Gegenwart und Vergangenheit in eine schlüssige Verbindung zu bringen ist nicht geglückt. Zu konstruiert, zu unwahrscheinlich für eine stimmige Thrillerhandlung gestalten sich die Zufälle, es sei denn, man nimmt sie rein symbolisch in dem Sinne, dass begangenes Unrecht über Generationen fortdauert und immer wieder zu neuer Unmenschlichkeit führt. Mankell verliert sich alsbald in seinen üblichen schwarz-weißen Schablonen. Robert Mugabe, ein freundlicher Freiheitskämpfer, wird vom bösen Westen übel verleumdet, die chinesische Führung verrät die im Grunde edlen Ziele Maos und etabliert sich in Afrika als neue Kolonialmacht, - das ist alles ein wenig zu simpel und überfrachtet den Roman hoffnungslos. Es ist fraglos wichtig, darüber nachzudenken, was der wachsende, diskret vorangetriebene chinesische Einfluss auf die Wirtschaft Afrikas bedeutet, doch eignet sich dafür ein politischer Essay besser; ein Roman wie dieser ist ein untaugliches Vehikel, auch wenn er im Detail noch so gut erzählt ist.

Das Diktat der Auflagenzahlen
Der neue Krimi des famosen Michael Collins behandelt wie es sich gehört, zuvorderst einen rätselhaften Mordfall: ein Mann verschwindet, der Sohn wird allgemein für den Mörder des Familientyrannen gehalten, zumal ein Finger  des Verschwundenen auf der Kellertreppe seines Hauses gefunden wird. Was Collins aber  sonst noch erzählt ist mindestens ebenso spannend. Der geografische Hintergrund der Geschichte ist eine amerikanische Kleinstadt, die schon bessere Tage gesehen hat. Die Industrie ist -lange vor der Globalisierung- abgesiedelt, Slums machen sich breit, traumatisierte Vietnamkrieg-Veteranen und zerstörte Familien sind Indikatoren des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs einer Region. Das örtliche Käseblatt mit dem Namen „Daily Truth" kämpft mit schwindenden Auflagenzahlen und gegen die aufgebrezelte Plappertante des Lokalfernsehens, die schneller, seichter und spektakulärer „informiert". Der Erzähler und Journalist Bill, der sich zu Höherem berufen fühlt, schwankt zwischen abseitigen philosophischen Ergüssen und hemmungslosem Boulevardjournalismus. Der Mordfall hat das Zeug zur überregionalen Sensation und eh Bill sich's versieht, ist er in der selbst angeheizten Gruselerzeugnungsmaschine gefangen. Die fatale Eigendynamik, die dieser Fall entwickelt, kann medial nicht mehr gestoppt werden und allmählich ist es egal, ob der Sohn seinen Vater wirklich umgebracht hat oder nicht, es reicht, dass das der Öffentlichkeit suggeriert wird und immer neue, sensationelle Details herbeigeschrieben werden. Ein großartiger Text mit doppeltem Boden.

Am Rand des Zusammenbruchs
Das fängt ja gut an: Annika Bengtzon, die langjährige Heldin aus Liza Marklunds Krimis wird von ihrem Man verlassen und in derselben Nacht, als Thomas seinen Koffer packt,  zündet jemand ihr Haus an. Annika und ihre beiden Kinder haben kein Dach über dem Kopf, und Annika dazu noch Stress im Job. Wieder einmal stehen Personalsparpläne ihres Printmediums an, das kann nur auf Kosten der Qualität gehen, was aber außer dem Chefredakteur allen egal ist. Trotz des privaten und beruflichen Chaos verbeißt sich Annika in die Recherche zu einem merkwürdigen Kriminalfall. Ein hochgelobter Vorzeige-Polizist liegt mit bizarren, tödlichen Verletzungen in seinem Schlafzimmer. Die Frau des Toten ist derart verstört, dass sie nichts zur Aufklärung des Mordes beitragen kann. Ihr kleiner Sohn ist aus der Wohnung verschwunden, man nimmt an, dass die Ehefrau Mann und Kind umgebracht hat. Dass der pr-taugliche Strahlemann mit Gangstern im Bunde war will keiner wissen und dass er anscheinend seine Frau jahrelang misshandelt hat, schon gar nicht. Die fiese patricharchale Interpretation ist hingegen schnell gefunden: Julia,  die ebenfalls Polizistin gewesen ist, war als Frau dem Job nicht gewachsen und ist daher übergeschnappt. Marklunds Subtext ist böse und deutlich. Sie beschreibt die offenen und unterschwelligen Sexismen, die an männliche und weibliche Täter verschiedene Maßstäbe anlegen und die selbst in einer fortschrittlichen Gesellschaft wie in Schweden noch längst nicht vom Tisch sind. Auch  schildert die Autorin mit bemerkenswerter Härte und Konsequenz die Nicht-Bewältigung von Beruf und Kindern. Annika ist das Gegenstück zur Fiktion der Powerfrau, die Familie und Job locker managt; sie ist ständig ausgebrannt und balanciert am Rande des endgültigen Zusammenbruchs. Da ist die Scheidung von ihrem Mann fast noch ein kleinerer Unglücksfall - sehr dramatisch, sehr bitter und überraschend bis zum Ende.

Iain Levison: Tiburn. Matthes & Seitz

Professor im Bett, Räuber im Keller
Das ist wirklich dumm gelaufen. Als sich der Geschichtsprofessor Elias White von der minderjährigen Tochter seines Nachbarn  verführen lässt, wird er ausgerechnet von einem Bankräuber beobachtet. Der braucht einen Ort um sich zu verstecken und da kommt ein erpressbarer Professor gerade recht. Elias ist genötigt, den Verletzten in seinem Keller zu verstecken. Ausserdem besticht er auf Geheiß des ungebetenen Gastes die Krankenschwester des Colleges,  welche - aus Jamaika stammend- Erfahrung im Umgang mit Schussverletzungen hat und Dixon verarztet. Levison beschreibt ein raffiniertes Spiel aus Einschüchterungen, Erpressung und Komplizenschaft und lässt es dabei an Zynismus nicht fehlen. Die FBI Agentin die die Spur des Bankräubers verfolgt ist ebenso wie Elias von ihrem Beruf frustriert. Sie ist gut im Job, hat aber keine Chance auf Karriere weil sie eine Frau ist. In dem Kaff in dem sie den Bankräuber vermutet, befragt sie auch White, findet so einigermaßen Gefallen an ihm und landet in seinem Bett, während der Verbrecher im Keller stillhalten muss. Levisons Blick auf Feiglinge, Lebenslügen und Opportunisten ist glasklar, er entlarvt die Mechanismen der political correctness ebenso wie den inferioren akademischen Betrieb in dem es darum geht, pseudooriginelle Thesen mit kalkulierter Tabuverletzung aufzustellen um zu möglichst vielen Veröffentlichungen zu kommen. Was seinen stupiden Aufsatz über die Nazis angeht, hat White sich gründlich verspekuliert, aber er wird bald ganz was anderes zu tun haben.  Der letzte Satz des absolut empfehlenswerten Buches, „Alles hat sich für alle zum Guten gewendet" ist wenig tröstlich, ganz im Gegenteil!

Viele widerliche Charaktere
Um das Geschäft mit der menschlichen Reproduktion geht es in Donna Leons neuem Krimi, um Kinderwunsch und Kinderhandel und darum, wie an sich sinnvolle Gesetze menschlichem Empfinden zuwiderlaufen. Das alles könnte in wohlfeile Gefühligkeit ausarten, aber diesmal hat Leon substantiell wieder zugelegt und schafft es von den seichten in tiefere Gewässer der Reflexion. Eben erst hat der Kinderarzt Pedrolli seinen kleinen Adoptivsohn schlafen gelegt, da stürmen vermummte Bewaffnete die Wohnung und  schlagen den entsetzten Vater, der das Kind schützen will, nieder. Der Arzt wird mit einem Schädelbruch ins Krankenhaus eingeliefert und Commissario Brunetti aus dem Bett geholt. Ein heikler Fall, denn die rabiaten Vermummten waren Carabinieri, deren Einsatz angeblich der Kriminalpolizei avisiert gewesen ist. Kompetenzstreitigkeiten bahnen sich an. Dottor Pedrolli hat seinen Sohn anscheinend unter Umgehung aller Gesetze einer Albanerin abgekauft, die das Kind nicht haben wollte. Das ist verboten,- aber ist das nicht das beste für das Baby? Jemand muss Pedrolli angezeigt und die Razzia in Gang gesetzt haben. Während der beliebte Arzt in seiner eigenen Klinik behandelt wird, schafft man das Baby ins auf Nimmerwiedersehen in ein Waisenhaus, was alle empört. Leons Krimi ist voll von widerlichen Charakteren, von altbekannten, karrieregeilen Vorgesetzten, bigotten Apothekern und geschniegelten Aufsteigern. Auch eine besonders eklige Variante eines rechtsradikalen Politikers ist mit seiner pseudohistorischen Inszenierung des Büroambientes und seiner Selbstgefälligkeit recht boshaft gezeichnet.  

Der Dank des Oligarchen
Manchmal zahlt sich eine gute Tat aus. Ohne den russischen Oligarchen, den Marcus Hoffmann in Nizza davor bewahrt hat von Gangstern zusammengeschlagen zu werden, hätte Marcus sein darauf folgendes Abenteuer nicht überlebt. Dabei begann alles so harmlos. Seine Frau Nathalie, hat beschlossen, ihre Vergangenheit in Russland nicht länger zu verdrängen und eine Urlaubsreise auf der Wolga zu buchen. 300 Kilometer von Moskau entfernt macht man einen Landgang im Städtchen Uglitsch. Hier gibt es noch keine Glitzermeilen, die Kinder betteln, die Gebäude sind vernachlässigt, die Straßen voller Händler. Natalie verschwindet, Marcus verlässt das Schiff, um nach seiner Frau zu suchen. Zwei Polizisten schlagen ihn zusammen und rauben ihn aus. Die dänische Botschaft in Moskau ist weit, Hilfe nicht zu erwarten. Obdachlose Kinder bieten Marcus Unterschlupf in einem Keller. Als Marcus entdeckt, dass Nathalie keine Russin, sondern eine Tschetschenin mit einer furchtbaren Biografie ist, begreift er allmählich die heillose historische Verstrickung der  erbitterten Gegner und erkennt, dass Nathalie in Wirklichkeit auf der Suche nach ihrer Schwester, einer zum Selbstmordattentat bereiten „Schwarzen Witwe" gewesen ist. Davidsen schildert plastisch das Netz der Oligarchen, welche leisetreten, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden wie Chodorchowski, aber dennoch ein Staat im Staate sind. Viel ist zu lesen über politische Entwicklungen, offizielle Perspektiven werden infrage gestellt, eine andere Geschichte des 20.Jahrhunderts wird präsentiert. Bildend und spannend- leider in einer mühsam kleinen Schrift.

Das Ende einer Mädchenfreundschaft
Wer zu partieller Amnesie neigt und von der wunderbaren Jugendzeit schwärmt, kann das neue Buch von Laura Lippman als Gegengift benutzen. Drei Teenager, seit zehn Jahren anscheinend die besten Freundinnen, sind in  ein rätselhaftes Schulmassaker verwickelt. Ein Mädchen wurde erschossen, ein zweites schwerst verletzt, das dritte - anscheinend eine Augenzeugin- hat einen Schock und Schusswunde am Fuß. Bedächtig und detailreich entwickelt die Autorin Szenen der Pubertierenden- Hölle und da das Ganze in Amerika spielt, kommen auch die für uns eher absurden Riten und Regeln der Highschool hinzu. Der Konkurrenzkampf ist allerdings global gültig. Wer ist am beliebtesten? Wer am hübschesten? Wer darf im Schultheater die Hauptrollen  spielen? Wer hat die angesagtesten Klamotten? Und wer schafft es, auf ein gutes College zuwechseln? Der Polizist Harold Lenhardt hat das Gefühl, dass die überlebende Josie lügt. Angeblich war das Mädchen Kat, das erschossen wurde, fast fehlerlos. Schön und gescheit und immer freundlich, - nahezu eine Heilige. Warum hätte ihre Freundin ihr ins Gesicht schießen sollen? Als das zweite Mädchen stirbt, ohne aussagen zu können, bleiben nur Josie und ihre Version der Geschichte übrig. Lippman entwirft mit ihren intim gezeichneten Figuren das soziologische Panorama eines unbedeutenden, fiktiven Ortes irgendwo in Maryland. Die Bauernmädchen werden von den Abkömmlingen der aufs Land geflüchteten Intellektuellen gemobbt, die Kinder ehrgeiziger Einwanderer versuchen sich um jeden Preis zu integrieren und alles wird vom dicken Make up der political correctness übertüncht: die Sauforgien der Jugendlichen, die Tierquälereien und die brutalen Rangkämpfe der Halbwüchsigen. Noch mal fünfzehn? Nein danke!

Stieg Larsson: Vergebung. Heyne

Kugeln, Hacker, Journalisten
Lisbeth Salander, Mittelpunkt der zwei vorangehenden Romane „Verblendung" und „Verdammnis" des 2004 verstorbenen Autors ist weiter auf ihrem privaten Rachefeldzug. Sie hat zu überleben gelernt und sie misstraut der ganzen Welt - mit gutem Grund. Als Opfer staatlicher Willkür  verweigert sie jede Zusammenarbeit mit den Behörden, selbst dann, als sie schwerverletzt begraben wird, sich rettet und mit einer Kugel im Kopf in der Intensivstation landet. Auch als man sie dreier Morde verdächtigt, schweigt sie eisern, findet aber in ihrem Chirurgen einen Verbündeten. Hilfreich sind auch die genialen Hackerfreunde, die Lisbeths Feinde ausspähen und Beweismaterial liefern, das den Staat und seine außer Kontrolle geratenen Behörden gar nicht gut aussehen lässt. Die investigativen Journalisten der Zeitschrift „Millenium" tun ein Übriges, um Lisbeth zu befreien. Larssons extreme Figuren bewegen sich am Rande der Glaubwürdigkeit, doch zeigt der Autor exemplarische Mechanismen der Gefährdung eines demokratischen Gemeinwesens auf. Wenn Geheimdienste zum Staat im Staate werden und die  rechtsgerichteten Kräfte sich zu obskuren Zirkeln zusammenrotten kann nur mehr auf die Courage unabhängiger Richter und Medien gesetzt werden. Aber auch letztere sind in Gefahr wenn sie, um Auflage zu machen, in den Boulevard abrutschen und so zu unfreiwilligen Komplizen der moralischen Erosion werden. Larsson verstand es jedenfalls, eine Spannung aufzubauen, die  Wochenendpläne über den Haufen zu werfen droht: zuallererst will man wissen, ob Lisbeth davonkommen wird. Alles andere kann doch auch später erledigt werden.

Stephen King: Wahn. Heyne

Wenn die Insel ruft
Ein Mann macht Schluss mit seinem bisherigen Leben und fängt ein neues an, nicht freiwillig, denn dem Bauunternehmer  Edgar Freemantle fällt sein eigener Kran auf den Kopf, verursacht ein Schädel-Hirn-Trauma und reißt ihm einen Arm ab. Die Rehabilitation ist lang und mühevoll, die neurologischen Ausfälle und Phantomschmerzen provozieren Wutausbrüche, die Frau verlässt ihn entnervt. Was nun? Edgar flüchtet aus dem kalten Minnesota nach Florida und mietet sich auf einer naturbelassenen Insel vor Florida ein. Er beginnt zu zeichnen, dann zu malen, es geht im zusehends besser, mehr noch, Edgars Talent zum Malen entfaltet sich auf erstaunliche Weise. Leid als Quelle, ja als Voraussetzung für künstlerische Inspiration, das Klischee scheint sich an diesem Ort zu bewahrheiten. Aber wir sind hier nicht bei Rosamunde Pilcher, sondern bei Stephen King und so liegt es auf der Hand, dass es mit dieser Reha - Idylle nicht lang gut gehen kann. Die Insel ist nicht nur heilend, es gibt da auch eine ungute Macht, die sich unter anderem in den Bildern Edgars manifestiert, weshalb es eher ungesund ist, sich solch ein Meisterwerk zu kaufen. Eine sehr alte Dame in der Nachbarschaft weiß offenbar mehr darüber, leider aber ist sie an Alzheimer erkrankt und verdämmert zusehends. King mixt munter Teile aus bekannten Mythen, ein bisschen Voodooo, eine kleine Anleihe bei den Vampiren, eine Prise Seegespenst. Dazwischen Reflexionen über den kreativen Prozess an sich und ein paar Anleitungen zum Malen, die wie aus einem gehobenen Ratgeber für Hobbymaler klingen, - so wird eine schöne Geistergeschichte auf die epische Breite von fast neunhundert Seiten ausgewalzt. Da King wie immer packend erzählt, sind die Längen aushaltbar. Anmerkung für den Übersetzer: die Vögel, die auf Edgars Strand herumlaufen sind Pieper, keineswegs „Piepser".

Kessel und Tiefkühltruhe
Für alle Neueinsteiger in ihr finsteres Reich spickt die forensische Anthropologin Kathy Reichs ihren Krimi mit einer Rekapitulation der Lebensumstände ihrer Langzeit- Heldin Tempe Brennan und einer ausgiebigen Lokalgeschichte von Charlotte, North Carolina, bevor sie mit der eigentlichen Story loslegt. Die Forensikerin Tempe wird mit einem merkwürdigen Fund konfrontiert. In einem Kellerversteck findet sie einen Kessel mit Erde und menschlichen Relikten, obendrauf den skelettierten Schädel einer jungen Schwarzen. Das sieht stark nach einem abartigen Ritual aus. Ein lokaler Fernsehprediger, der unbedingt in die Politik will, ergreift die Gelegenheit, gegen den Verfall der Sitten und des einzig wahren christlichen Glaubens zu wettern. Ganz klar, im Untergrund wüteten diabolische Sekten, die allgemeine Gottlosigkeit toleriert ja sogar die lokalen Aussenseiter, die sich zum neuen Heidentum bekennen und sich nächtens in der Natur herumtreiben. Die Hetzreden des rechten Fanatikers stacheln zu einem Lynchmord an einem Unschuldigen auf. Tempe, die seit Jahren trockene Alkoholikerin erleidet einen verheerenden Rückfall und kämpft mit Gedächtnislücken sowie fortwährenden erotischen Verwirrungen. Es ist also allerhand los am Land, wo die Braven und Arbeitsamen der allgemeinen Dekadenz Paroli bieten und in Garagen Tiefkühltruhen mit unpassendem Inhalt aufwarten. Reichs scharfe Anmerkungen zu Intoleranz und Bigotterie lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wie immer gibt es bei dieser Autorin eine Menge naturwissenschaftlicher Anmerkungen zur geheimen Sprache der Knochen. Etliche nicht allzu tiefschürfende Recherchen zu synkretistischen Religionen sind auch zu finden , ein blutiger Krimi mit Mehrwert- wenn auch nicht der allerbeste von Kathy Reichs.

Kate Atkinson: Lebenslügen. Droemer

Verschwinden und Überleben
Kate Atkinsons Protagonisten sind Menschen, die ein grausames Schicksal hinter sich haben und den Erinnerungen mit Verdrängung begegnen, weil es die einzige Art ist, zu überleben. Die 16jährige Reggie schätzt sich glücklich, bei Joanna Hunter als Kindermädchen arbeiten zu dürfen. Reggie, die, wie man beschönigend sagt, aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommt, himmelt die schöne und erfolgreiche Ärztin an. Sie ahnt nicht, dass Jo mit ihren heißgeliebten Baby eine Überlebende ist: als sie ein kleines Mädchen war hat sich ein unbekannter Mann auf ihre Mutter und die Geschwister gestützt und sie erstochen. Die kleine Jo war in ein Weizenfeld gerannt und als einzige davongekommen. Nun ist der Mörder nach einer langen Gefängnisstrafe wieder frei. Da verschwindet Jo mitsamt dem Kind aus ihrem schönen Haus in Edinburgh. Ihr Mann, der sich seltsam benimmt, behauptet, seine Frau sei eine Tante besuchen gefahren, aber warum hat Jo dann ihr Handy zurückgelassen? Reggie kann sich die plötzliche Abreise ihrer Dienstgeberin nicht erklären und fordert hartnäckig Aufklärung. Ein vifer Teenager, der gut beobachten kann kämpft für seine Ersatzfamilie und gegen den Rest der Welt: es dauert, bis Reggie den Stein ins Rollen bringt, dann aber wird eine Lawine daraus. Atkinsons Krimi ist auf lange Strecken sehr dezent. Die Dramatik baut sich erst allmählich auf. Sie erzählt sprachlich souverän, sensibel und sorgfältig in den Details, ohne die innere Spannung zu verlieren. Dann die kurze, präzise Schilderung wozu Menschen fähig sind, die zum Äußersten getrieben werden um ihr Kind zu beschützen: das ist im Kontrast dazu schockierend wie ein kalte Dusche. Am Ende wird es dann Weihnachten, meterologisch Tristesse pur, aber die Wille zum Überleben ist stärker denn je, auch wenn einen die Nächsten verraten - es gibt immer Überlebende.

Viel zu viele Verdächtige
Eine Reverenz an den klassischen Kriminalroman, spielerisch weiterentwickelt, aktualisiert und recht bissig, das ist Anne Holts neuester Krimi. Das Setting ist altbewährt: In einer geschlossenen Gesellschaft geschieht ein Mord. Der oder die kluge Detektivin  findet durch Befragung und mehr oder weniger nachvollziehbare Kombination heraus wer der Mörder ist. In diesem Fall sind die Umstände ein wenig dramatischer als auf einem englischen Landsitz zur Teezeit. In Norwegen entgleist ein Zug wegen eines heftigen Schneesturms. Die rund 200 Passagiere können trotz des Orkans evakuiert und in ein nahegelegenes Berghotel gebracht werden. Mürrische Beobachterin der wilden Szenen ist Hanne Wilhelmsen, eine Expolizistin, die nach einem Schusswechsel querschnittgelähmt im Rollstuhl sitzt. Aktiv kann sie kaum handeln, also muss sich die Ich-Erzählerin auf ihre geistigen Kapazitäten beschränken, als ein Mitglied der Zwangsgemeinschaft ermordet wird. Nicht nur, dass es zu viele Verdächtige gibt, das Ganze wird noch komplizierter, weil an den Zug ein Sonderwaggon angehängt gewesen war: wer sind die anonymen Miteisenden, die niemand zu Gesicht bekommen hat?  Etwa Mitglieder des norwegischen Königshauses? Tatsache ist, dass ein Teil des zugeschneiten Hotels abgesperrt und von unfreundlichen Bewaffneten abgeriegelt wird. Wilhelmsen wird immer misanthropischer, die Kühlräume in der Küche werden grausig zweckentfremdet, Hunde machen sich unbeliebt und weil so schnell keine Rettung in Sicht ist, zeigen sich die Eingeschlossenen bald von ihrer schlechtesten Seite. Wilhelmsens Aussenseiterposition gewinnt dem  Geschehen ganz neue Perspektiven ab und verleiht dem scheinbar abgenutzten Krimimuster neuen Glanz.

John Harvey: Schlaf nicht zu lange. dtv

Vermisst und wieder aufgetaucht
Frank Elder, ehemals Polizist und geschieden, hat sich in ein einsames Steinhaus in Cornwall zurückgezogen. Seine einsiedlerische Ruhe wird durch den Anruf seiner Ex gestört, die ihn bittet, nach der verschwundenen Schwester einer Freundin zu suchen. Elders hat wenig Neigung in die Zivilisation zurückzukehren, wäre damit nicht die Möglichkeit verbunden, seine Tochter zu treffen.
Elders Kollegen haben noch nicht viel unternommen, denn Claire, eine ehrbare und etwas verklemmt scheinende Witwe ist schließlich erwachsen und niemandem Rechenschaft über ihren Aufenthalt  schuldig. Immerhin findet Elder bald heraus, dass Claire übers Internet Männerbekanntschaften gesucht und gefunden hat. An wen ist sie dabei geraten? Claire taucht nach wochenlanger Abwesenheit wieder auf. Allerdings als Leiche. Ordentlich zurechtgemacht liegt sie in ihrem Schlafzimmer und diese seltsame Inszenierung erinnert Elder an einen alten Fall, den er nie aufklären konnte. Er bleibt also bei seinen früheren Kollegen und folgt seiner Intuition. John Harvey  liefert dem Leser vage Anhaltspunkte für ein Motiv, indem er in einer Rückschau die  missglückten Sitzungen einer Schulpsychologin mit einem aggressiven, verschlossenen Schüler schildert. Zu welchem Erwachsenen ist das kleine Scheusal später geworden? Ein bequemer Tatverdächtiger bietet sich in der Person eines geistig Zurückgebliebenen an, der Prostituierte belästigt, bloß glaubt Elder nicht an diese Version, denn sie passt viel zu gut zu den allgemeinen Vorurteilen. Harvey, der unter anderem auch Drehbücher für Krimiserien im britischen TV schreibt, zeigt Talent für makabre Höhepunkte und einen kompakten Erzählverlauf. Passt bestens als Urlaubsbegleiter.

Missglückte Kur
Der Basler Kriminalkommissär Peter Hunkeler liegt im lauwarmen Wasser eines Solebades und hat eine Depression. Man hat ihn aufs Abstellgleis geschoben und wegen seiner Rückenprobleme auf Kur geschickt. Hunkeler denkt trotzig über seinen endgültigen Rückzug aufs Land nach, doch daraus wird nichts, denn im nebelumwaberten Solebad treibt alsbald eine Leiche. Hunkeler versucht sich einzureden, dass ihn das alles nichts anginge, aber er wird bald hochoffiziell gebeten, sich einzuschalten und handelt sich damit eine Menge Ärger ein. Der Tote war ein bekannter Kunsthändler und bekennender Schwuler, von dem die Mär geht, dass er sich illegal eine antike Staue angeeignet habe. Hunkelers homophobe Kollegen glauben jedenfalls zu wissen, dass es sich um einen milieutypischen Mord handle und verhaften prompt den Falschen. Verschärft wird die verfahrene Situation durch die sensiblen geografischen Gegebenheiten. Im Dreiländereck zwischen der Schweiz, dem Elsass und Deutschland ist man empfindlich was die Zuständigkeiten angeht, was Hunkeler, der mit den verschiedenen Mentalitäten und Animositäten jongliert, egal ist. Er entwickelt einen Hang zur Kunstgeschichte, sympathisiert mit nicht ganz astreinen Aussteigern, die auf Indianer machen, und beschließt, fortan nicht nur Hühner, sondern auch Schweine zu halten. Dass er die je - wie er ursprünglich vorhatte- schlachten lassen wird, darf bezweifelt werden. Man muss Hansjörg Schneiders grantigen, selbstzweiflerischen Serienhelden einfach mögen. Er ist zwar ein wenig aktiver, aber im Grunde genommen könnte er ein Bruder von Komareks Dorfgendarmen Simon Polt sein. Hier geht es nicht um einen besonders raffinierten Kriminalfall, sondern um Altern, Genussfähigkeit und die Schönheit der Rheinlandschaft: eine durchweg sympathische Synthese.

Die Ankündigung mehrerer Tode
„Ich brauche wohl nicht erst hinzufügen, dass wir es in diesem Fall mit einer unerhört komplizierten Geschichte zu tun haben". Das sagt der Profiler, der etwas über die Psyche eines Mörders herausfinden soll, welcher seine Taten  schriftlich ankündigt. Die Briefe landen bei Gunnar Barbarotti, dem sowohl die anscheinend willkürlich ausgewählten Opfer als auch der Mörder Rätsel aufgeben, denn Barbarotti hat keine Ahnung, warum ausgerechnet er die schriftlichen Ankündigungen der Verbrechen bekommt. Hakan Nessers neuestes Opus ist geschickt aufgebaut und hält perfekt die Balance zwischen Introspektion und Spannung. Sein schwedischer Ermittler mit dem italienischen Familiennamen ist der gängige Typus des leise alternden Melancholikers der darüber grübelt, ob es sich noch lohnt, aus seinem alten Leben auszuscheren und einen neuen Anlauf mit seiner Geliebten zu wagen. Die Mordserie in Schweden gibt Barbarotti Gelegenheit, diese existenziellen Probleme eine zeitlang zu verdrängen. Barbarotti lässt sich in seiner Frustration zu Handgreiflichkeiten gegenüber einem Boulevardjournalisten hinreißen und wird vom Dienst suspendiert, was ihn nicht daran hindert, weiter zu ermitteln. Der Leser weiß bald mehr als Barbarotti, den es gibt Einschübe mit Aufzeichnungen aus einem Urlaub in Frankreich, wo schwedische Landsleute zufällig aufeinandertreffen und eine verhängnisvolle Komplizenschaft eingehen. Das ist auch die einzige, spät entdeckte Spur: Alben mit Schnappschüssen aus den Ferien, die beweisen, dass die Mordopfer einander gekannt haben müssen. Also Obacht im Urlaub! Man kann nie wissen, mit wem man sich das Boot teilt!

In der Stille der Siesta
Auf der ersten Seite des Romans wird ein alter Mann umgebracht, der in einem Sessel sitzt und schläft. Man weiß, wer der Mörder ist: Carlos Sastre, ein Sommergast  im spanischen Badeort San Pedro del Mar hat zum Rasiermesser gegriffen und dem einst prominenten Oberrichter die Kehle aufgeschlitzt. Nun kommt es darauf an, die Mordwaffe zu entsorgen und den Ahnungslosen zu mimen. Sastre gelingt das anfangs auch recht gut. Denn in der Stille der Mittagshitze, wenn alle Siesta halten, scheint ihn niemand gesehen zu haben. Der Leser beobachtet  die Verwirrung und die Panik unter den betuchten Sommergästen die sich hier jedes Jahr treffen und eine Art geschlossene Gesellschaft bilden. Mutmaßungen werden angestellt, Gerüchte machen die Runde, die Partys, zu denen traditionell reihum eingeladen wird, kennen nur ein Gesprächsthema: das unbekannte Motiv des Mörders. Und genau darüber wird der Lesende im Unklaren gelassen. Kann man sich mit dem zum Äußersten getriebenen Mörder solidarisieren? Was hat der unbeliebte Richter -womöglich während des Franco-Regimes -verbrochen? Scheint eine Rachetat wenigstens ansatzweise nachvollziehbar? Der spanische Schriftsteller J.M.Gulbenzu, bislang eher der anspruchsvollen Prosa und der Lyrik verpflichtet, hebt mit seinem ersten Krimi das Genre auf ein hohes Niveau. Dreh- und Angelpunkt des Geschehens sind die inneren Konflikte des Täters, seine Ängste und die zunehmend irrationalen Reaktionen, die ihn zu verraten drohen. Hinzu kommt noch eine Romanze mit einer Femme fatale, aber die entpuppt sich als weit weniger fatal als das Dienstmädchen.

Bankräuber, Schatzgräber und verliebte Polizistinnen
Die Zeitungen nennen ihn "Buschbandit", seine Arbeitsweise ist effektiv: die Banken in den australischen Kleinstädten überfällt Wyatt mit einer abgesägten Schrotflinte und macht sich dann mithilfe gestohlener Fahrzeuge davon. Sein Neffe Raymond bewundert den erfolgreichen Onkel und versucht seinerseits, einen größeren Coup zu landen. Dabei fällt er auf die windigen Versprechen eines Mannes herein, der ein Schiffswrack voll Edelmetall gefunden haben will und nur noch einen Investor sucht, der die Bergungskosten mitträgt. Als Köder dient eine sehr entgegenkommende Dame, welche die Investoren entsprechend „behandelt". Die Polizistin Liz bringt einen korrupten Kollegen zur Strecke, verliebt sich in den wortkargen Wyatt und findet dessen Juwelen-Beute. Da man sie aus dem Job mobbt, landet sie zwangsweise auf der anderen Seite des Gesetzes, dann im Bett von Wyatt, später im Kleiderschrank. Garry Dishers Krimi-Personal ist durchweg übel. Jeder betrügt jeden und man stirbt meistens an Schusswunden oder fällt betäubt über eine Reling. Im atemberaubenden Tempo hetzen die Figuren durch die australische Provinz, Disher gönnt ihnen keine Rast. Die Flucht wird zur normalen Lebensform, Habgier zur Dauerbefindlichkeit, Stehlen ist so selbstverständlich wie atmen und für unterbelichtete Fluchthelferinnen gibt es ebenfalls keine Gnade. Die Ordnungshüter treten nur peripher in Erscheinung und trotzdem wird es für Wyatt, der schon in mehreren Bänden Dishers überlebt hat wirklich eng. Rau und eigenständig, dazu noch im handlichen Kleinformat, passt Dishers rasanter Krimi in jede Badetasche und verspricht mit einem heftigen Show-Down Spannung bis zur allerletzten Seite.

Die Frau von Gegenüber
Kinky ist  in einer misslichen Lage: zusätzlich zu seiner üblichen Durchgeknalltheit  hat er auch noch einen bösen Malariaanfall. Die Wirklichkeit verzerrt sich aufs Abenteuerlichste, Kinky deliriert, philosophiert und spricht mit seiner ignoranten Katze. Seine Kumpels versammeln sich in der Vandam Street, Manhattan,  um in Kinkys Loft auf ihn aufzupassen. Leider handelt es sich dabei um liebenswürdige Nichtsnutze, die entweder bekifft oder schwer besoffen sind und sich mithin nicht wirklich gut als Krankenpfleger eignen.  Kinky sieht ständig Dinge, die die anderen für irreal halten. Zum Beispiel, wie eine Frau in einer gegenüberliegenden Wohnung mißhandelt wird und auf die Straße läuft. Klar, der Arme hat Halluzinationen; auch die herbeigerufenen Polizisten, die weder die Frau noch die Wohnung finden, sind der Meinung, dass der Fiebernde eine Schraube locker hat. Immerhin ergeben  hartnäckige Nachforschungen, dass die Frau von Gegenüber den Namen einer Toten benutzt. Irgendetwas ist hier oberfaul und Kinkys unfreiwillige Gefangenschaft macht ihn auch nicht genießbarer. Friedmans irrwitzige, schnelle Dialoge sind eine Klasse für sich; er spielt mit bekannten, ehrwürdigen Denkmälern des Genres wie Hitchcock und Sherlock Holmes, verpackt seine hinreißend pessimistische Weltskepsis in alltagstaugliche Merksätze und schert sich den Teufel um politische Correctness. Und wird das Ganze dann überhaupt ein richtiger Krimi? Friedman schlägt auch hier einen Haken und lässt den Leser auf etwas hoffen, das dann - natürlich nicht -eintritt.
Auf der allerletzten Seite, im Dankeswort, wechselt der Autor von der Fiktion in die Realität. Er protestiert gegen die Wegrationalisierung seines Lektors Chuck Adams bei Simon & Schuster. Er hat recht: die Welt wird immer schlechter.

Franz Kabelka: Dünne Haut. Haymon

Therapie mit Hindernissen
„Sie hockt auf ihm wie ein Ringer auf dem Besiegten, mit einem orangen Ding in der Hand. Schwer zu sagen, wie sie an sein Stanley rangekommen ist." Alptraum oder Wirklichkeit? Das fragt sich nicht nur der Leser, sondern auch Chefinspektor Tone Hagen, der sich zwecks Erholung in einer  psychosomatischen Klinik befindet. Und das kam so: ein Verkehrsrowdy in Papas feinem BMW provoziert Hagen dazu, eine Bierflasche auf dem Gefährt zu zerdeppern. Das kommt nicht gut an und der Beschluss lautet, Chefinspektor Hagen hat ein Burn-out und braucht eine Auszeit, am besten nicht im heimischen Vorarlberg, das wäre peinlich, wenn die Presse draufkäme, sondern in einer süddeutschen Einrichtung. Dort kann er mit Tanzkurs, Malen und Gruppentherapie zu sich selbst finden, das ist zumindest der Plan. Aber es kommt anders, denn in dieser Klinik sind nicht nur die Insassen sonderbar, auch das Personal ficht allerlei verborgene Kämpfe aus. Als Katalysator für dräuende Explosionen wirkt eine extrem manipulative Femme fatale, die die Therapeutinnen zur Verzweiflung bringt, einen der Ärzte des sexuellen Missbrauchs bezichtigt und Hagen eindeutige Avancen macht. Der aber erweist sich als weitgehend resistent, denn er hat den furchtbaren Unfall seiner Verlobten noch nicht verwunden. Diese Geschichte wird in Rückblenden erzählt und erklärt den instabilen Zustand des Chefinspektors, der erst einmal gar nichts von allzu tiefer, weil schmerzlicher Introspektion wissen will und sich in der Gruppentherapie möglichst bedeckt hält. Glücklicherweise sind bald seine ermittlerischen Fähigkeiten gefragt und da kann Hangen gut vor sich selbst davonlaufen. Franz Kabelkas schlanker Krimi ist eine ausbalancierte Wanderung zwischen Wahnwelten und Wirklichkeit, er hat nicht nur Dramatik, sondern auch Humor und eine eigene Kauzigkeit, die schon die zwei vorangegangenen Bücher kennzeichnet.

Die kleine Rächerin
„Ich war sieben Jahre alt, als ich beschloss, meine Mutter zu töten. Doch ich musste siebzehn werden, bevor der Beschluss in die Tat umgesetzt werden konnte." So knapp und klar eröffnet Schwedin Maria Ernestam die Lebensbeichte einer Frau, - ein Risiko, denn aus dem Psychothriller könnte damit leicht die Luft heraus sein. Aber  der Text bleibt in seiner langsamen Zuspitzung  trotz der Vorwegnahme spannend. Eva hat zum 56.Geburstag ein Tagebuch geschenkt bekommen. Das veranlasst sie zum Aufschreiben ihrer Erinnerungen, ein Blick zurück im Zorn, doch ohne Reue: „..ich musste mir eingestehen, dass die Menschen oft nur deshalb Schuld empfinden, weil sie angeklagt werden. Nicht, weil sie gesündigt haben." Und angeklagt ist Eva nicht, denn niemand weiß von ihrer Tat und die Leiche ihrer Mutter ruht im wohlgedüngten Rosenbeet unter duftenden Sträuchern, die von Eva obsessiv gepflegt werden, - bis ihr Mann ausgerechnet dort eine Wasserleitung verlegen möchte. Mit dem Wechsel von Erinnerung und Gegenwart hält die Autorin den Fluss der Erzählung in Schwung, sie schildert die vergeblichen Kämpfen eines kleinen Mädchens um Zuneigung und Wahrgenommenwerden, erzählt von einer beziehungsunfähigen Mutter, einem schwachen Vater, der das Weite sucht, von der ersten Liebe und der erbitterten Rivalität zwischen Mutter und Tochter. Das gerät aber nicht zum selbstmitleidigen Lamento über eine finstere Kindheit, sondern wird von erfrischend boshaften Kommentaren ergänzt. Das kleine Mädchen entwickelt sich zu einer Rächerin. Ein Arbeitskollege der Mutter bekommt das ebenso zu spüren wie ein aggressiver Nachbarshund; die Moral von der Geschichte? Nicht ertappt werden ist wichtig, sonst nichts.

Ake Edwardson: Rotes Meer. Ullstein

Blick auf die Parallelgesellschaft
Drei Tote in einem Laden, der auch über Nach geöffnet hat, drei Tote in einem Viertel von Göteborg, in dem fast nur Immigranten leben, - ein rätselhafter Fall, der Erik Winter an seine Grenzen treibt. Denn eines ist klar, Unterstützung von der Bevölkerung  kann die Polizei hier keine erwarten. Es passiert dann auch nicht weiter viel, außer dass die Polizisten ständig an eine Mauer des Schweigens stoßen. Der Taxifahrer, der die Toten - einen Afrikaner und Männer aus dem Nahen Osten - gemeldet hat, glaubt sich zu erinnern, dass er  leise Schritte eines laufenden Kindes gehört hat. Das Kind kann nicht gefunden werden und geht Winter doch ständig im Kopf herum. Er hat das Gefühl, beobachtet zu werden, wenn er erfolglos von Wohnung zu Wohnung geht und überall auf ähnliche Bilder trifft. Die Mütter, die kein Wort Schwedisch verstehen, sind verstummt. Sie kochen Tee für Winter, haben keine Ahnung, was ihre Söhne draußen in der feindlich - fremden Welt treiben; die Töchter  schweigen ebenfalls, haben ihre Heimlichkeiten und werden von den männlichen Verwandten überwacht. Es sind schnelle, lakonische Dialoge, die die Polizisten miteinander führen. Sie spinnen Geschichten aus, versuchen phantasievolle Rekonstruktionen, um diese große Stille zu füllen. Die Befragten haben Angst, abgeschoben, weiterverschickt zu werden, sie  fürchten sich auch vor Racheaktionen der eigenen Landsleute; der Dolmetscher weiß etwas, sagt aber nichts. Ein Informant wird umgebracht, man findet das Blut eines zweiten Menschen am Tatort. Wieder will sich niemand erinnern, irgendetwas gesehen zu haben. „Rotes Meer" ist ein beklemmender Blick in eine Parallelgesellschaft, die ihre Stimme nur in inneren Monologen erhebt. Auf einer früheren Zeitebene sind Erinnerungen an Flucht, Soldaten, Genozid eingestreut. Das macht das Gefühl ständigen Bedrohtseins begreifbar. Edwardson begegnet dieser ihm sich verschließenden Welt nicht hochmütig, sondern um Verständnis werbend. Er generiert keine weiteren Vorurteile über Nichtintegrierbarkeit, sondern zeigt, woher diese Verweigerung kommt. Ein Krimi, wenn er gut ist, lebt nicht nur von  Verbrechen, er kann auch zur Humanisierung beitragen.

Besondere Ekel
Garry Disher oftmals hoch gelobt, wird wieder einmal seinem Ruf gerecht: Schnappschuss"
ist ein ausgefuchster Krimi aus der australischen Provinz, wo die Leute ehrbar und die Wasser tief sind. „Samstag abend hatte sie zugeschaut, wie  Robert es mit vier Frauen  hintereinander trieb. Sie selbst hatte Sex mit zwei Männern. Nun war es Dienstag und sie fuhr mit ihrer siebenjährigen Tochter über den Highway". So wird uns mit den ersten Sätzen Janine McQuarrie vorgestellt. Janine gehört nicht zu den Netten. Manipulativ, streitsüchtig und in ihrem Job als Psychologin denkbar ungeeignet, trotzdem ist es etwas krass, sie deswegen zu erschießen. Genau das passiert aber gleich am Anfang. Sie hat bei den Swingerparties heimlich Fotos mit ihrem Handy gemacht und dabei auch ihren blöde feixenden Ehemann nicht ausgenommen. Fürchtet jemand, bloßgestellt zu werden? Oder steckt ein rachsüchtiger Partner, dem die eigene Frau mit Unterstützung Janines davongelaufen ist, hinter dem Mord? Disher lässt seine weiblichen Figuren nicht gut aussehen, aber die Männer sind besondere Ekel. Chauvinisten überall, egal ob im trauten Heim oder bei der Polizei, Reaktionäre der übelsten Sorte, die es ganz gut finden, dass die „linke" Chefredakteurin des Lokalblattes umgebracht wurde, hirnlose, kleinkriminelle Teenager, sadistische Aufseher von Internierungslagern, die in Australien zum Einsperren von illegalen Immigranten dienen, traumatisierte Ex-Soldaten, kurzum, das ganze geballte Elend und trotzdem nirgends ein plausibles Mordmotiv. Detective Inspector Hal Challis braucht viel Mut, um sich gegen die lokalen Platzhirschen durchzusetzen. Kompakt, schlüssig, spannend, ab in den Urlaubskoffer!

Anschlag im Busch
Eine Frau wird in ihrem Haus überfallen. Sie kann entkommen und  besorgt sich einen Bodyguard. Deon Meyers neuer Thriller wird aus der Sicht dieses Mannes erzählt: Lemmers Vergangenheit ist alles andere als blütenweiß. Er hat einmal einen Angreifer zu Tode gebracht- und es genossen. Nach vier Jahren im Knast hat er Waffenverbot, muss also statt des Schießeisens seinen Grips benützen. Das hilft allerdings nicht recht weiter, denn die Verhältnisse in Südafrika sind sehr speziell. Ganz besonders im Kruger-Nationalpark, wohin sich Lemmer und seine Klientin begeben, um deren verschollenen Bruder wiederzufinden. Der zweite Anschlag auf die Frau ist  recht originell. Man hat eine schwarze Mamba in ihre Suite geworfen und das Reptil ist dementsprechend angriffslustig. Auf der Suche nach dem Bruder seiner Auftraggeberin gerät Lemmer zwischen die Fronten der „Landentwickler", die im Nationalpark so ziemlich alles von Golfplatz bis zum Hotel bauen wollen und fanatischen Naturschützern. Die gehen anscheinend recht weit in ihrem Bestreben die Umwelt zu retten. Aber auch sie mauern, sobald Lemmer mit seiner attraktiven Kundin auftaucht. Den Gesuchten, der etliche Wilderer erschossen haben soll, will niemand gesehen haben. Es ist ein Untergrundkrieg, der mit Beharrlichkeit und allen schmutzigen Tricks ausgefochten wird und auch weit größere Dimensionen annimmt als Lemmer sich vorstellen kann. Deon Meyer, zu Recht hoch gepriesener Thrillerautor aus Südafrika, vermag sein Land mit all den inneren Widersprüchen und Brüchen sehr anschaulich darzustellen. „Weißer Schatten" gehört zu den aufregendsten Thrillern des Herbstes; eine Spannung, die ohne Durchhänger 400 Seiten gehalten wird verdient wahrlich Anerkennung.

Amsterdamer Geheimnisse
Der tote Inder liegt in einem Hausboot. Er ist am zahlreichen Schnitten verblutet, es gibt keine Tatwaffe. Commissaris Bruno van Leeuwen taucht in die fremde Welt der Einwanderer ein, an die man sich in Amsterdam zwar schon lange gewöhnt hat, die aber trotzdem verborgen und für sich bleibt. Der Ermordete hat bei einem Großimporteur von Gewürzen gearbeitet. Was hat er dort gesehen? Der Verdacht liegt nahe, dass nicht nur Gewürze, sondern auch Rauschgift importiert wird; doch vielleicht ist das nur ein reflexhaftes Vorurteil, dem auch der übereifrige Zollfahnder Dekker erliegt, der die indische Gewürzhändlerfamilie observiert und drangsaliert? Van Leeuwen versucht sich in der Familienstruktur, einer Mischung aus eisernem Zusammenhalt, erzwungenem Respekt und Machtgefälle, zurechtzufinden. Es geht ihm nicht gut, er droht in Depressionen zu versinken weil er seine Frau Simone mit der lange und, wie er meint, sehr glücklich verheiratet war in ein Pflegeheim geben musste. Simone ist nur noch körperlich anwesend, ihr Erinnerungsvermögen hat die Alzheimer-Krankheit zerstört und van Leeuwen grübelt über Schuld und Vergebung nach, über verpasste Aussprachen und seine Angst allein zurückzubleiben. Als Simone stirbt, versucht er sich zu erschießen und wird nur durch Zufall gerettet. In dieser Ausnahmesituation verbeißt er sich weiter in den rätselhaften Fall des ermordeten Inders. Cornelius Fischer provoziert starke Emotionen und zeichnet eindrückliche Bilder. Der Plot scheint zunächst einfach konstruiert, doch er erweist sich im Laufe der Geschichte als viel komplizierter, weil hier so vielschichtige Kulturen mit so unterschiedlichen Wertehaltungen aufeinander prallen. Da hilft nur noch eine drastische Lösung wie in einem Shakespeare- Drama. Gut zu wissen, dass Fischer bereits an seinem dritten Krimi mit dem Amsterdamer Commissaris arbeitet: bitte mehr davon!
Das Elend des Literaten
Sarkastisch zu Anfang, dann klirrend kalt und mitleidslos entwickelt sich der Krimi vom Michael Collins zu einem hoch spannenden Psychodrama mit überraschendem Ausgang.
Collins schildert erst genüsslich die geschützte kleine Welt einer zweitklassigen US-Universität: Lächerliche Rangkämpfe und Eifersüchteleien, absurde Dialoge von Selbstdarstellern, die einander in intellektuellen Beckmessereien zu übertrumpfen versuchen und schmale Lyrikbände veröffentlichen, um weiter an der Universität bleiben zu dürfen - all das  ist tragikomisch und in der Figur von Pendleton fokussiert. Pendleton, der verklemmte Professor, bemüht sich halbherzig, seinen desinteressierten Studierenden eine Ahnung von Literatur zu vermitteln. In einem Anfall nachtschwarzer Depression versucht er Selbstmord zu begehen, wird aber von der Langzeit-Studentin Abi gerettet. Nicht zu seinem Besten, denn er ist nun ein sprachlos dahinvegetierender Pflegefall. Abi beschließt, ihre Doktorarbeit über das recht marginale künstlerische Schaffen von Pendelton zu schreiben. Da entdeckt sie im Haus des Professors einen Karton mit einem gedruckten, jedoch nie veröffentlichten Roman, der brillant aber schaurig ist. Pendelton hat sich scheints kongenial in die Psyche eines Mörders hineinversetzt und dabei Details eines echten Kriminalfalls beschrieben, die eigentlich nur der Mörder kennen kann. Nichtsdestoweniger wird das Buch ein Bestseller und Abi immer unheimlicher zumute. Ziemlich unheimlich ist auch der manische Ermittler Ryan, der sich in alte ungelöste Fälle verbeißt und von massiven psychischen Problemen heimgesucht wird. Rundum gelungen, intelligent und viel aufregender als der langweilige Titel vermuten lässt.

John le Carré: Marionetten. Ullstein

Allgemeine Paranoia
Alles schillert, nichts ist eindeutig. Das ist so bei Spionagethrillern und natürlich auch beim Altmeister John le Carré, der sich diesmal mit der allgemeinen Paranoia seit 9/11 befasst.  Die Figuren kommen ein bisschen klischeehaft daher: der soignierte schottische Bankier, der schmutziges Geld für zweifelhafte Kunden notfalls Jahrzehnte bunkert. Die beherzte und dauerempörte Anwältin, ein bisschen links und aus gutem Haus, die unbedingt einen armen Verfolgten retten muss, dann  dieser illegal nach Hamburg eingesickerte Moslem Issa selbst, reichlich verwirrt und von zwiespältigem Charakter. Für den interessieren sich die diversen Geheimdienstler aus Deutschland, England und Amerika, untereinander spinnefeind und eifersüchtig auf ihr Revier bedacht. Ist Issa („Jesus") tatsächlich ein gefolterter, harmloser Abkömmling eines russischen Vergewaltigers und einer Tschetschenin, dessen größter Wunsch es ist, in Deutschland Medizin zu studieren? Oder wird er demnächst, etwa mit einem Sprengstoffgürtel oder Schlimmerem ausgestattet, in Hamburg ein Blutbad anrichten? Was ist das tatsächliche Gesicht des moslemischen Geistlichen, der Frieden und Toleranz predigt, aber als Finanzier diverse islamische Hilfsorganisationen unterstützt, die nicht astrein erscheinen? Le Carré lässt vieles offen, schildert aber plastisch die trickreichen Versuche, Menschen „umzudrehen", als Informanten zu instrumentalisieren indem man sie glauben macht, ein gutes Werk zu tun - was ja vielleicht tatsächlich der Fall ist. Dass dabei der Rechtsstaat erodiert, ist ein Kollateralschaden, den die Geheimdienstler mehr oder weniger achselzuckend hinnehmen. Soweit ist das alles nichts Neues, aber in Form eines routinierten Thrillers eingängig zu lesen.
Sex, Video und schlechtes Karma
Sonchai Jitpleecheep, Sohn einer Thailänderin und eines amerikanischen Vietnam-Soldaten ist ein Wanderer zwischen den Welten. Westliche Effizienz gegen asiatische Gelassenheit, vermeintliche Rationalität gegen Geisterglauben, geschriebenes Gesetz gegen die Praxis der Prostitution und Korruption, das sind nur einige der Bruchlinien, die einen anderen als den humorvollen Polizisten Sonchai verzweifeln lassen würden, denn er arbeitet an einem Fall, der ihn persönlich betrifft. Sonchais Ex-Geliebte, eine diabolisch- verführerische Prostituierte ist in Bangkok erwürgt worden. Damrong hat Sex als Waffe eingesetzt, um ihre hörigen Kunden zu ruinieren, sie ist Opfer, aber auch Täterin gewesen. Ihre Ermordung wurde in einem Snuff - Video festgehalten, Sonchai sucht den Mörder und hat wenig Aussichten auf Erfolg. Zu viele reiche Männer, zu viele Vorgesetzte die ihnen einen Gefallen schuldig sind, zu viele Spuren, die nirgendwohin führen. Unterstützt wird er von der FBI-Agentin Kimberley, die sich mit der asiatischen Weltsicht schwertut und sich zu allem Überfluss in den Assistenten Sonchais verliebt. Leider ist der hübsche Lek ein Transsexueller, der sich abends Frauenkleider anzieht und sich auf die geschlechtsumwandelnde Operation freut, was in Thailand nicht viel Aufsehen erregt, aber Kimberley schockiert. John Burdett thematisiert die kulturellen Differenzen, die durch den Wirtschaftsboom und den globalisierten technischen Fortschritt nur oberflächlich zugedeckt erscheinen, lässt Platz für beängstigende Seelenwanderungen und schlechtes Karma und erzählt einiges über das historisch belastete Verhältnis zwischen Thais und Khmer. Spannend, kenntnisreich und oft witzig ,- eine gute Mischung!

Der Mann ist schon mit seinem Debut auf dem Weg zum Kultautor: Xavier-Marie Bonnot stammt aus Marseille, lebt in Paris und ist Dokumentarfilmer. „Der große Jäger" ist sein erster Roman und erinnert in seiner Rätselhaftigkeit ein wenig an die geniale Landsmännin Fred Vargas. Im Vorwort stellt uns kein Geringerer als Friedrich Ani den Ermittler Michel De Palma  vom Morddezernat Marseille vor: unbequem, unberechenbar, ein Liebhaber der Oper und des Meeres und einer, der weiß, dass auch in seiner Seele Mörderinstinkte schlummern. Das Meer will seine Geheimnisse bewahren. Eine Dozentin für Ur- und Frühgeschichte, die als Wasserleiche endet, ein angeblich verunglückter Taucher und eine siebenundzwanzigtausend Jahre alte Unterwasserhöhle scheinen miteinander zu tun zu haben. An Land halten bizarre Serienmorde den Trupp De Palmas in Atem. Ein kannibalisch veranlagter Mörder zerstückelt seine Opfer mit Steinzeitklingen und hinterlässt am Tatort den Abdruck einer Hand. Der gleicht jenen Abdrücken, die die Menschen der Vorzeit in ihren Höhlenmalereien hinterlassen haben. Es wirkt wie ein Einbruch des Archaischen in unsere dünn lackierte Zivilisation, wie ein Rückfall in längst versunkene Zeiten. Ein Psychiater gerät in Verdacht, da alle Spuren so gelegt sind, dass sie auf ihn verweisen. Zudem beschäftigt sich der Mann auch noch mit Schamanismus, indem er rezente Ethnien erforscht, um die Rituale und Vorstellungswelten der Vorzeitmenschen  zu rekonstruieren. Bonnot legt den Plot gerade so kompliziert an, dass er noch nicht überzeichnet wirkt. Mit De Palma hat er jedenfalls eine vielschichtige, ungemein interessante Figur geschaffen, der man gerne wiederbegegnen wird.

Friedrich Ani: Wer tötet, handelt. dtv

Vor fünfzehn Monaten hatte  Jonas Vogel einen Unfall, bei dem er sein Augenlicht verlor. Jetzt ist er pensioniert, aber das sagt nichts, denn wer einmal Polizist gewesen ist, ist immer Polizist. Das versucht  Jonas Vogel  seinem Sohn Max beizubringen. Max, Nachfolger seines Vaters im Kommissariat, stellt sich stur, doch kann er nicht verhindern, dass sein exzentrischer Vater sich freiwillig in die Gewalt eines Geiselnehmers begibt. Jonas weiß, dass die Frau, die der Verbrecher festhält, hatte zusehen müssen, wie ihre Eltern in der gemeinsamen Wohnung ermordet wurden. Die Wiederholung  dieser existentiell bedrohenden Situation muss zu ihrem Zusammenbruch führen. Jonas befreit die Frau und bleibt bei dem Bewaffneten, der anscheinend nicht so genau weiß, was er will. Zwischen Jonas und dem Geiselnehmer entspinnt sich ein Dialog. Ein Blinder erscheint weniger bedrohlich, es fällt leichter, ihm Dinge anzuvertrauen, die man noch nie jemandem erzählt hat. Einer, der nicht sehen kann, sieht tiefer. Friedrich Ani ist zurecht ein bewunderter Star der deutschsprachigen Krimiszene, - sein neues Opus ist zwar eher ein Psychothriller als ein Krimi, doch Ani schreibt so spannungsgeladen, dass man auf das vertraute Schema Opfer-Täter- Aufklärung ohnehin leicht verzichten kann. Der wahre Horror entspinnt sich erst in den Gesprächen zwischen Vogel und den Geiselnehmer. Eine ganz normale Jugend auf dem Dorf mit schaurig normalen Eltern, die schlichte Unmöglichkeit eines Auswegs und die brutale Wendung sind meisterlich miteinander verknüpft. Was mit Vogels Frau passiert, die allein und verlassen durch die Nacht irrt, weil ihr Mann wieder einmal jemand anderen retten muss und  sie dabei wie immer vergisst, ist eine parallele Geschichte mit nicht weniger Brisanz. 
 

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