Dezember 2009 Archives

Großer Bahnhof

  Recht amüsant liest sich Danielle Thierys Die Schatten der Toten (Aufbau), denn die Hauptfigur, Kommissarin  Edwige Marion hat so gut wie nichts im Griff, schon gar nicht ihre Beziehungen. Sie hat sich in einen schönen, geheimnisvollen Mann verliebt, der sie plötzlich  sitzengelassen hat und ohne Erklärung verschwunden ist. Seitdem ist sie nicht mehr sie selbst. Als Verantwortliche für den Pariser Gare du Nord versiebt sie einen Einsatz, bei dem ein ausgelieferter Schwerverbrecher vom Zug abgeholt werden soll. Der Mann wird bei seiner Ankunft von einer Frau umgebracht. Einem Polizisten kommt seine Dienstwaffe abhanden, ein andere ist in einem Alkoholexzess versunken. Überhaupt tut sich am Bahnhof einiges. Vom Taschendiebstahl bis zu Drogenhandel und Schlepperei  reicht die bunte Palette und Marion hat zu allem Überfluss eine befremdliche Begegnung mit der Ehefrau ihres abhanden gekommenen Geliebten. Voll Eifersucht verfolgt sie seine Spuren, sie setzt sich in den Zug und fährt die Strecke, die er anscheinend täglich zurückgelegt hat. Sie entdeckt, dass eine Gruppe von jungen Kosmetikerinnen die Fahrt zur Arbeit dazu benützt, der Prostitution nachzugehen. Praktischerweise benützen sie dabei das Abteil des kollaborierenden Schaffners. Das ist zwar spannend, bringt aber Marion den Liebhaber nicht zurück. Marion ist keine allwissende Superfrau sondern höchst irdisch und fehlbar. Das macht sie sympathisch. Ein mächtiger Schuss Sentimentalität gehört natürlich auch zu einem französischen Krimi. Aber das ist aushaltbar, denn der  Humor wirkt neutralisierend.

 

Inel mit Geistern

  Es beginnt wie ein herkömmlicher Krimi: ein kleines Mädchen verschwindet. Das  ist an sich kein singuläres Ereignis, aber  dieser Fall ist doch höchst beunruhigend. Die Kleine kann nämlich gar nicht verschwunden sein, denn  sie befindet sich auf einer übersichtlichen Schäreninsel, mit klimometerweit zugefrorenem Meer und müsste eigentlich sofort aufzufinden sein. Aber Maja bleibt verschollen. Die Ehe von Anders und Cecilia zerbricht darüber. Jahre später kehrt Anders, schwer alkoholkrank, in das verlassene Haus zurück und  wird von merkwürdigen Empfindungen heimgesucht.Der Autor erzählt Familiengeschichten, die Generationen zurückreichen. Die Inselgesellschaft ist in sich gespalten. Das sind zunächst einmal die „echten" Eingeborenen, die das ganz Jahr über auf Gavasten wohnen und die „Sommergäste" mit ihren nicht winterfesten Häusern, die eigentlich immer Aussenseiter bleiben und von den überlieferten Insel-Geschichte nichts wissen dürfen. John Ajvide Lindqvist braucht dementsprechend auch 555 Seiten, um das schwedische Seemannsgarn zu spinnen, das in einer veritablen Geistergeschichte endet. Eindrückliche und epische Schilderungen einer grundsätzlich feindseligen Natur sind ein Plus; wers mit der Spökenkiekerei hat, darf sich mit  Menschenhafen (Lübbe) fein gruseln.

Auf nach Sizilien

Spätestens nach dem nach dem sechsfachen Mafiamord in Duisburg konnte man nicht mehr den Kopf in den Sand stecken: die Mafia hat längst in Deutschland Fuß gefasst und hat unter anderem jede Menge Immobilien in ihren Besitz gebracht. Was man als Problem Italiens oder der USA ansah, hat sich diskret über Europa ausgebreitet und ist zu den höheren Weihen der guten Gesellschaft aufgestiegen. Kommissar Crinelli ist mit einem gröberen Fall von Drogenhandel beschäftigt, als er zu einem Toten am Rheinufer gerufen wird. Der Mann ist von einem Profikiller ermordet worden und zu Crinellis Entsetzten stellt sich heraus dass er aus der derselben Familie stammt und ebenfalls Crinelli hieß. Nun verhält es sich so, dass sich Kommissar Crinelli als Kind italienischer Zuwanderer zeitlebens von seinen Wurzeln distanziert hat und sich als hundertprozentiger Deutscher fühlt. Mit der verzweigten Sippe aus Kalabrien wollte er nie zu tun haben. Dennoch beschließt er widerstrebend, zu Recherchen nach Sizilien zu reisen und gerät in das Netzwerk der `Ndrangheta. Es läuft alles wie in einem schlechten Film ab. Der greise Don, ein Onkel, hockt schwerst bewacht in einer Festung in den Bergen, die Leibwächter sind fleischgewordene Klischees und Crinelli muss der Tatsache ins Auge sehen, dass man sich von seiner Vergangenheit nie gänzlich abnabeln kann. Walter Köhlers feiner, spannender Krimi Crinellis dunkle Erinnerung (KiWi) hat ausser einer schlüssigen Story noch den Vorzug, dass man eine beträchtliche Zahl saftiger italienischer Flüche lernen kann.

 

 

Der stumme Mörder

„Ich habe sie getötet" sagt Kevin Brace, Torontos bekannter Radiomoderator, als ihm sein indischer Zeitungsausträger wie jeden Tag die Zeitung überreichen will. Kevins Ehefrau liegt erstochen in der Badewanne. Alles scheint klar zu sein. Der Ehemann leugnet die Tat nicht, er ist geradezu erpicht darauf, im Gefängnis zu bleiben. Doch er frustriert seine Anwältin, den Staatsanwalt und den Richter gleichermaßen, denn Brace weigert sich, zu sprechen. Er kommuniziert nur mehr schriftlich; auch ein Spitzel, der ins Gefängnis eingeschleust wird, weiß nichts zu berichten. Brace ist zu wie eine Auster. Robert Rotenbergs Krimi Angeklagt (rororo) bietet den Eitelkeiten und Marotten der beteiligten Juristen breiten Raum. An diesem merkwürdigen Fall entscheiden sich Karrieren, es wird gekämpft wie in einem sportlichen Match, bei dem es allerdings auch Fouls gibt. Die verdrehte Psychostruktur der Toten bleibt weitgehend unerklärt, dafür  ist das Spiel mit Erinnerungen, dem Sichtbaren, dem Offensichtlichen und dem, was man zu sehen glaubt, recht reizvoll. Toronto als geografische Folie für Krimis ist nicht gerade  überlaufen, vielleicht wird sich das noch ändern. Rotenberg war Journalist, hat später eine Anwaltskanzlei gegründet und scheint beide Passionen ganz gut vereinen zu können.

Der Brief auf der Schwelle

Der sechste Fall der Linzer Kommissarin Ria Lohmeyer ist für sie selbst unerquicklich: Dem seltsamen Drohbrief auf ihrer Schwelle misst sie erst  Bedeutung bei, als sie erkennen muss, dass er mit einem Mord zusammenhängt. Die Leiche der Frau weist genau dieselben Verstümmelungen auf, die in der Zeichnung angekündigt sind. Der Fingerabdruck, der als Unterschrift dient, stammt vom Mordopfer. Lohmeyer ist schwer verunsichert. Der Absender muss jemand aus ihrer näheren Umgebung sein. Wem aus ihrer Truppe soll sie noch trauen? Etliche ihrer männlichen Kollegen hegen gewiss einen Groll gegen sie, weil sie die Karriereleiter hinaufgeklettert ist. Aber ist das ein ausreichend starkes Motiv? Ihr Lebensgefährte Jürgen benimmt sich seit einiger Zeit auch sehr seltsam. Geht abends weg und kommt  spät und mit Kratzspuren versehen zurück. Ist er womöglich der Verrückte, der  seine Taten ankündigt, um sie in Panik zu versetzen?  Die Morde gehen weiter und die Verstümmelungen der Opfer werden immer bizarrer. Beharrlich rückt Ernst Schmid Linz ins Licht der Krimischeinwerfer. Ene Meine Muh (Resistenz Verlag) beweist, dass das Böse immer und überall ist, auch in einer Kulturhauptstadt.

Hybrides Blut und Beuschel

  Der Böse ist sehr böse und verfügt beinahe über übermenschliche Fähigkeiten. Sqweegel scheint ohne erkennbares Motiv zu morden und zu metzeln. Von dem berüchtigten Serial Killer weiß man nicht einmal, wieviele Menschen er schon umgebracht hat. Klingt nach amerikanischem Fast Food. Ist es auch. Anthony E. Zuiker, Schöpfer und Produzent des Fernsehformats CSI hat mit Sqweegel ein neues Monster erfunden, das noch dazu hybrid ist. Denn es treibt nicht nur auf den Buchseiten von Level 26 Dark Origins (Lübbe) sein Unwesen, sondern auch in Videoclips. An bestimmten Stellen des Thrillers gibt es eine Internetadresse, wo man sich die entsprechende Situation auch ansehen kann. Die kurzen Szenen hat der Autor selbst produziert und das mit, wie er betont, professionellen Schauspielern. Da kann man dann auch den Gegenspieler des Bösen sehen. Dark, ein emeritierter FBI-Agent, den die Jagd nach dem Monster seine gesamte Pflegefamilie gekostet hat und der sich bemüht, die Trümmer seines traumatisierten Ichs wieder einigermaßen zusammenzukitten. Seine einzige Stütze ist dabei seine schwangere Frau. Gegen seinen Willen wird Dark von den früheren fiesen Kollegen gezwungen, sich wieder auf die Jagd nach Sqweegel zu machen - mit den entsprechenden Konsequenzen. Das ist alles einen Tick zu überdreht, recht eindimensional und auf Gruseleffekte ausgerichtet.

Die Hybridform „Digi Novel" ruiniert konsequenterweise die Arbeit der Phantasie. Die ist ja auch im Negativen, und ganz besonders da -  (man denke an die ausgefuchsten Höllendarstellungen von Bosch und Co! Die  Paradiesdarstellungen sind nie so einfallsreich!) - kreativ. Blut und Beuschel werden sozusagen vorgekaut. Ich bin auch nicht sicher, ob ich mich bei Level26 mit meiner e-mail-Adresse einloggen möchte. Wo landet die dann? Beim Heimatschutzministerium, Abteilung verdächtige Sadisten?

 

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